In der Bundesrepublik stehen wir vor der Notwendigkeit umfassender Reformen. Die Durchführung der notwendigen Reformen und ein weiteres Steigen des Wohlstandes sind nur möglich bei wachsender Wirtschaft und gesunden Finanzen. Doch diese Bundesregierung hat ein schwieriges wirtschaftspolitisches Erbe übernommen, das zu raschem Handeln zwang: Seit gestern ist die Parität der D-Mark um 8,5 Prozent verbessert. Die außenwirtschaftliche Absicherung auf steuerlichem Wege wurde endgültig aufgehoben.
Wir werden die Forderungen des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums erfüllen. Dieses Gesetz, eine der großen Reformleistungen des 5. Deutschen Bundestages, verpflichtet zum Handeln, wenn das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gefährdet ist. Diese Pflicht war seit dem Frühjahr 1969 vernachlässigt worden.
Der Beschluß der Bundesregierung vom 24. Oktober beendet eine Phase der Unsicherheit und beseitigt das fundamentale Ungleichgewicht in unserer Zahlungsbilanz. Außenwirtschaftlich haben wir damit einen entscheidenden Beitrag geleistet, um den Welthandel weiter zu liberalisieren und das Weltwährungssystem zu stabilisieren.
Binnenwirtschaftlich wird die Aufwertung die Preisentwicklung des Jahres 1970 dämpfen. Allerdings wäre mehr zu erreichen gewesen, wenn die vorige Bundesregierung rechtzeitig gehandelt hätte. Der Höhepunkt der Preisentwicklung kann wegen dieses Versäumnisses sogar noch vor uns liegen.
Ohne Aufwertung wäre eine weitere Zuspitzung der Konjunkturlage mit der Gefahr einer nachfolgenden Rezession kaum vermeidbar gewesen. Unser Ziel lautet: Stabilisierung ohne Stagnation. Diesem Ziel dient unser wirtschafts- und finanzpolitisches Sofortprogramm. Es enthält:
Eine Finanzpolitik, die eine graduelle Umorientierung des Güterangebots auf den Binnenmarkt hin fördert.
Weitere Konsultationen mit der Bundesbank über eine der neuen Lage nach der DM-Aufwertung angemessene Linie der Geld- und Kreditpolitik.
Die Fortsetzung und Intensivierung der bewährten Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften und Unternehmensverbänden im Rahmen der Konzertierten Aktion, an der in Zukunft auch Vertreter der Landwirtschaft teilnehmen werden.
Die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Gemeinden im Konjunkturrat der öffentlichen Hand.
Die aktive Mitarbeit der Bundesregierung an einer stärkeren Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und an der notwendigen Weiterentwicklung des Weltwährungssystems.
Die Aufwertung der D-Mark verlangt von uns einen Einkommensausgleich für die Landwirtschaft. Unsere Verpflichtung gegenüber den deutschen Bauern müssen wir jedoch mit den Römischen Verträgen über den Gemeinsamen Markt in Einklang bringen.
Der Rat der Europäischen Gemeinschaften hat anerkannt, daß der Einkommensverlust der deutschen Landwirtschaft voll ausgeglichen werden muß. Nach stundenlangen Beratungen hat er in den heutigen Morgenstunden folgendes beschlossen:
Auf Antrag der deutschen Delegation wurde eine Übergangsregelung für die Dauer von 6 Wochen getroffen. Während dieser Zeit werden die Preise nach der bisherigen Parität aufrechterhalten und durch ein Grenzausgleichssystem abgesichert.
Nach dieser Zeit erhält die Landwirtschaft den Einkommensausgleich.
Dieser Ausgleich kann zum Teil durch eine Änderung des Mehrwertsteuergesetzes herbeigeführt werden. Wie das im einzelnen geschieht, darüber wird dieses Hohe Haus in Kürze beraten müssen.
Der Rest wird durch direkte Ausgleichszahlungen gedeckt, an denen sich die Gemeinschaft beteiligen wird.
Der Rat der Europäischen Gemeinschaften wird in Kürze erneut zusammentreten, um die Einzelheiten der langfristigen Regelung festzulegen.
Leider hat der Rat dem mehrfach und mit großem Nachdruck vorgetragenen Antrag der Bundesregierung, das bisherige Preisniveau durch ein Grenzausgleichssystem auf Dauer beizubehalten, nicht entsprochen. Unsere Partner in der EWG und die Kommission vertraten den Standpunkt, daß dadurch die Grundlage der gemeinsamen Agrarpolitik und des Gemeinsamen Marktes in Frage gestellt werden würde.
Dieser Kompromiß zeigt deutlich, daß ein Widerspruch zwischen der weit vorangetriebenen Integration des Agrarmarktes und der mangelnden Koordinierung der Konjunktur- und Währungspolitik besteht. Eine Weiterentwicklung der Agrarpolitik im Rahmen der EWG muß daher in Zukunft stärker auf Fortschritte bei der Wirtschafts- und Währungspolitik abgestimmt werden. Es bleibt das Ziel der Bundesregierung, die nationale Verantwortung für die landwirtschaftliche Strukturpolitik zu erhalten. Bei der notwendigen Strukturverbesserung der Landwirtschaft muß vermieden werden, daß eine Politik des Preisdrucks betrieben wird.
Die vorzeitige Verwirklichung des gemeinsamen Agrarmarktes hat die internen Anpassungsprobleme der deutschen Landwirtschaft wesentlich verschärft. Wir halten es deshalb für unausweichlich, der Landwirtschaft bei der Überwindung ihrer Schwierigkeiten zu helfen. Sie soll sich zu einem gleichrangigen Teil unserer modernen Volkswirtschaft entwickeln, der an der allgemeinen Einkommens- und Wohlstandsentwicklung in vollem Umfange teilnimmt.
Dieses Sofortprogramm ist ein klares Angebot der Bundesregierung an alle, die unsere Wirtschaft tragen. Eine stetige Wirtschaftsentwicklung ist die beste Grundlage des gesellschaftlichen Fortschritts. Sie schafft das Klima, in dem sich private Initiative, Risikobereitschaft und Leistungsfähigkeit entfalten können. Sie sichert die Arbeitsplätze, schützt die steigenden Einkommen und wachsenden Ersparnisse vor der Auszehrung durch Preissteigerungen.
Auf Dauer können Stabilität und Wachstum nur in einer funktionsfähigen marktwirtschaftlichen Ordnung erreicht werden. Ein wirksamer Wettbewerb nach innen und nach außen ist und bleibt die sicherste Gewähr für die Leistungskraft einer Volkswirtschaft. Allen protektionistischen Neigungen im In- und Ausland erteilen wir eine klare Absage.
Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen wird modernisiert werden. Unternehmenskonzentration ist zwar in vielen Bereichen notwendig. Sie darf aber nicht zur Ausschaltung des wirksamen Wettbewerbs führen. Deshalb ist eine vorbeugende Fusionskontrolle erforderlich. Diese soll sich auf alle Bereiche der Wirtschaft erstrecken. Die Einrichtung einer unabhängigen Monopol-Kommission kann dazu ein wichtiges Instrument sein. Die Mißbrauchskontrolle marktbeherrschender und marktstarker Positionen muß ausgebaut werden. Dagegen soll die leistungssteigernde Kooperation zwischen Mittel- und Kleinunternehmen, auch im Handwerk und Handel, erleichtert werden. Sie darf nicht an dem Verbot von Bagatellkartellen scheitern. Die Klein- und Mittelbetriebe haben ein Recht auf gleiche Startchancen im Wettbewerb und auf einen wirksamen Schutz vor diskriminierenden Praktiken.
Die Fusionskontrolle soll auch für die Presse gelten. Die Regierung beabsichtigt, ein Presserechts- Rahmengesetz vorzulegen. Im Fernsehen sollen neue technische Möglichkeiten zum besten Nutzen der Gesellschaft, vor allem auch für Bildungsaufgaben, verwendet werden; in jedem Falle sind dabei die Interessen der Öffentlichkeit vorrangig zu sichern.
Ein verbessertes Kartellgesetz muß zum Instrument einer wirksamen und fortschrittlichen Mittelstandspolitik werden. Auf dieser Grundlage können dann weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Finanzierungsmöglichkeiten, zum Ausbau des Beratungswesens und zu einer vom Betrieb unabhängigen Alterssicherung für die Selbständigen aufbauen.
Zu den Schwerpunkten der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik dieser Bundesregierung gehört das Bemühen um eine gezielte Vermögenspolitik. Die Vermögensbildung in breiten Schichten - vor allem in Arbeitnehmerhand - ist völlig unzureichend; sie muß kräftig verstärkt werden. Die Bundesregierung wird einen Entwurf zum Ausbau des Vermögensbildungsgesetzes vorlegen. Darin soll als nächster Schritt der Begünstigungsrahmen für vermögenswirksame Leistungen von 312 auf 624 DM erhöht werden. Die Bundesregierung erwartet, daß Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände diese Offerte annehmen.
Darüber hinaus soll die Vermögensbildung so gestaltet werden, daß gleichzeitig die Kapitalbildung in der Wirtschaft und die Anlage in Beteiligungswerten erleichtert werden. Ein gesetzliches Zwangssparen entspricht jedoch nicht unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung. Nach der Absicht der Regierung sollen das Sparen im eigenen Betrieb in die allgemeine Sparförderung einbezogen und die Möglichkeiten des Bausparens erweitert werden. Weitere Vorschläge zur Vermögenspolitik, vor allem auch im Zusammenhang mit der notwendigen Reform der Sparförderung, werden geprüft. Die Verbesserung des Sparerschutzes und die Reform des Börsenwesens sind dabei wichtige flankierende Maßnahmen.
Dauerhafte Sicherheit kann es in einer entwickelten Gesellschaft nur durch Veränderung geben. Das wird sich in den siebziger Jahren noch deutlicher zeigen.
Der permanente wirtschaftliche und soziale Wandel ist eine Herausforderung an uns alle. Er kann ohne die Initiative des einzelnen nicht gemeistert werden. Die Eigeninitiative braucht jedoch die Unterstützung der Politik. Wir dürfen keine Gesellschaft der verkümmerten Talente werden. Jeder muß seine Fähigkeiten entwickeln können. Die betroffenen Menschen dürfen nicht einfach ihrem Schicksal überlassen werden. Im Bewußtsein der Verantwortung für die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes in den siebziger Jahren werden wir uns besonders intensiv der Ausbildung und Fortbildung sowie der Forschung und der Innovation annehmen.
Dabei gilt es insbesondere, das immer noch bestehende Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land abzubauen. Ich bin sicher, daß wir auf diese Weise beträchtliche Leistungsreserven unserer Gesellschaft mobilisieren und die Chancen jedes einzelnen verbessern können.
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