Den Ausgangspunkt der entsprechenden Forschung zu dieser Erscheinung bildete ein Fall aus New York, der von den Medien von tiefer Betroffenheit kommentiert wurde. Was war geschehen? Am 13. März 1964 befand sich die 28-jährige Catherine ("Kitty") Genovese im Stadtteil Queens um 3 Uhr nachts auf dem Heimweg zu ihrem Appartement, als sie kurz vor ihrer Wohnung, die in einem Hinterhof lag, überfallen wurde. Der Täter brauchte länger als 30 Minuten, um sein laut um Hilfe rufendes und sich heftig wehrendes Opfer nach drei Attacken schließlich zu erstechen. Das Besondere an diesem Fall ist, dass keiner der insgesamt 38 Nachbarn, die durch die Schreie aufmerksam wurden und das Geschehen hinter den Gardinen ihrer Fenster beobachtet haben, der Frau zu Hilfe kam; auch die Polizei wurde nicht (etwa telefonisch) verständigt. Warum war das so bzw.
warum ist das so in vergleichbaren Fällen? Wenn nicht geholfen wird, so hat die Forschung inzwischen ergeben, so hat das vor allem mit . "Verantwortungsdiffusion" und . "pluralischer Ignoranz" zu tun. Verantwortungsdiffusion bedeutet, dass sich der potentielle Täter durch die Anwesenheit der anderen Zuschauer ("Bystander") weniger oder gar nicht verantwortlich fühlt. Er weist die Verantwortung (bewusst oder unbewusst) von sich ("Warum gerade ich?") und beruhigt ("neutralisiert") das eigene Gewissen ("soziale Erleichterung"), indem er sich sagt, dass auch die anderen Beobachter in der Notsituation eingreifen könnten. Außerdem wird durch die erlebte Passivität dieser anderen Zuschauer, nämlich durch deren scheinbare Gleichgültigkeit oft die Ernsthaftigkeit der Notsituation herunter-gespielt: sog. pluralistische Ignoranz. Beide Reaktionen dürften auch im Falle der Kitty Genovese eine Rolle gespielt haben.
Aber es gibt noch weitere Einflussfaktoren, die zur unterlassenen Hilfeleistung führen (können). II. Zum Entscheidungsprozess (potentieller) Bystander Nach Latané und Darley, die zu den Wissenschaftlern gehören, die sich nach dem New Yorker Tötungsverbrechen mit den Motiven unterlassener Hilfeleistung befasst haben, entwickelt sich die Entscheidung, ob geholfen wird oder nicht (bewusst oder unbewusst), prozesshaft in vier Stufen, die auch heute noch meist den Ausgangspunkt einschlägiger Forschungsarbeiten bilden. . Auf der ersten Stufe der Wahrnehmung bemerkt der potentielle Helfer, dass "etwas nicht stimmt" (noticing something is wrong). . Auf der zweiten Stufe wird registriert, dass es sich bei der beobachteten Situation um einen Notfall handelt (deciding the event is an emergency). . Auf der dritten Stufe wird die eigene Verantwortlichkeit anerkannt, die dann, wenn der potentielle Helfer allein ist, meist eher bejaht wird als wenn außer ihm noch weitere Zuschauer (wie im Fall der Kitty Genovese) anwesend sind.
. Auf der vierten Stufe schließlich fällt die Entscheidung für oder gegen die Hilfestellung (deciding the specific mode of intervention). Dabei werden manche Stufen auch mehrmals durchlaufen. 1. Kosten-Nutzen-Abwägungen 1. Kosten-Nutzen-Abwägungen spielen vor allem in der betriebswissenschaftlichen Entscheidungstheorie eine Rolle. Auf die Bystander-Situation übertragen, wägt der potentielle Helfer (meist unbewusst und sekundenschnell) ab, welchen Nutzen ihm die evtl.
Hilfeleistung einbringt, aber auch, welche materiellen bzw. physischen und psychischen Kosten bzw. Nachteile (Theorie der Rationalen Wahl). Als "Nutzen" kommen z.B. in Betracht: die Entlastung des eigenen Gewissens bzw.
die Anerkennung durch Dritte, wenn man selbst helfend eingreift. Die "Kosten" ergeben sich aus speziellen situativen und personenbezogenen Einflussfaktoren. 2. Situative Einflussfaktoren Zu den situativen Einflussfaktoren gehören (außer dem schon erörterten Verhalten der anderen Zuschauer) insbesondere: . die Eindeutigkeit der Notlage, . Zeit und Ort des Ereignisses, . Opfermerkmale und nicht zuletzt . das Ausmaß der Gefahr für den Helfer. a) Eindeutigkeit der Notlage Entscheidend ist zunächst die Eindeutigkeit der Notlage. Notlagen, die als solche nicht klar erkennbar sind, vermindern erfahrungsgemäß die Hilfeleistung bzw.
die Bereitschaft dazu. Zu der Eindeutigkeit trägt vor allem die Sichtbarkeit des Opfers mit bei. Aber auch dann kann es zu Missverständnissen kommen. Ein Beispiel dazu: In der Fußgängerzone der Nürnberger Innenstadt bedrohte im Februar 1991 ein Raubtäter eine Frau vor den Augen zahlreicher Zuschauer mit einem Messer. Die Frau schrie um Hilfe, doch keiner der Passanten griff ein: auch dann noch nicht, als sie mit ansehen konnten, dass es dem Täter gelang, der Frau ihre Handtasche zu entreißen und zu entkommen. Warum hat keiner geholfen? Weil z.
B. viele der Bystander meinten, eine Fernsehproduktion zu erleben: die Notsituation war nicht eindeutig. b) Zeit und Ort des Ereignisses Ob geholfen wird, hängt ferner von der Umgebung und von der Tageszeit ab bzw. von der Helligkeit oder Dunkelheit zur Tatzeit. So ist festgestellt worden, dass Zuschauer in der Nacht und in einer fremden Umgebung weniger zur Hilfeleistung bereit sind als tagsüber (in einer vertrauten Umgebung). Das erscheint zumindest plausibel.
c) Opfermerkmale Ob geholfen wird oder nicht, hängt aber auch von Opfermerkmalen ab. Auffällig ist, dass einem attraktiven Opfer häufiger als einem unattraktiven Opfer geholfen wird. Hübsche Frauen haben die größten Chancen auf Hilfeleistung, verwahrloste Männer (etwa "Penner") generell die geringsten. In letzteren Fällen spielt vor allem das sog. "Gerechtigkeitsdenken" eine Rolle: "selber schuld". d) Das Ausmaß der Gefahr Nicht zuletzt ist das (vom potentiellen Helfer) angenommene Ausmaß der Gefahr, das mit einer Hilfeleistung verbunden sein kann, nicht ohne Bedeutung.
Ein Interventionsrisiko besteht insbesondere bei allen gefährlichen Straftaten und mehreren Angreifern. Der Zuschauer sorgt sich in allen solchen Fällen, wenn er dem Opfer hilft, "selbst etwas abzubekommen". Unrealistisch ist diese Einschätzung in vielen Fällen jedenfalls nicht. III. Handlungsvorschläge zum Hilfeverhalten Meist wird spontan geholfen ("aus dem Bauch heraus") oder gar nicht. Das heißt realistisch betrachtet: in der Regel entscheidet man sich eher gegen eine persönliche Intervention.
Beispiel: Um die Hilfsbereitschaft von Autofahrern zu testen, führten der ADAC und der Südwestfunk 1992 ein Experiment mit einem gestellten Verkehrsunfall auf einer Landstrasse durch. Neben einem umgestürzten, demolierten PKW lag ein vermeintlich "blutender und regungsloser Verletzter"; eine zweite "hilflose und verletzte" Person befand sich noch zur Hälfte im Wagen. In einem Zeitraum von insgesamt drei Stunden passierten 60 Autofahrer und drei Radfahrer die Unfallstelle. Knapp 80% von ihnen (55 Personen) leisteten keine Hilfe; darunter waren vier Fahrer die kurz anhielten, nach kurzem Zögern aber weiterfuhren. In einer abschließenden Befragung begründeten die PKW-Fahrer, die vorbeigefahren waren ohne anzuhalten und zu helfen, ihr Verhalten damit, dass andere Fahrer hätten helfen können: "Ich dachte, da hält schon ein anderer": Verantwortungsdiffusion. Von diesem (problematischen) Spontanverhalten lässt sich die geplante Hilfeleistung unterscheiden, weil der potentielle Helfer dann weiß, was er tun muss: er verfügt über ein "Skript" nach dessen "Drehbuch" er zu handeln vermag (wenn er will).
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