Jeder Wahlberechtigte hat daher zwei Stimmen, die dazu führen sollen, sowohl Parteienprogramme als auch dem Wähler schon allein territorial näherstehende Personen wählen.
a) Die Erststimme
Mit der Erststimme entscheidet der Wählende sich für einen Kandidaten (in aller Regel einer Partei) in seinem Wahlkreis. (Wobei idealtypisch und diskussionswürdigerweise davon ausgegangen wird, daß der Kandidat als Person und nicht der Kandidat in Vertretung einer bestimmten Partei gewählt wird.)
Die für die erste Stimme relevanten Wahlkreise werden vom Gesetzgeber eingeteilt. Die Einteilung ist ein demokratietheoretisches Problem. Es besteht die Gefahr des sogenannten \"gerrymandering\", das meint , daß Wahlkreise derart eingeteilt werden, daß entweder durch geschickte Mischung der Wählerschaft oder aber durch Hochburgenbildung das gegnerische Wählerpotential neutralisiert wird.
Da nach dem Grundgesetz anzustreben ist, daß jede Stimme gleich viel Gewicht hat, schreibt das Bundeswahlgesetz die Veränderung der entsprechenden Wahlkreise vor, wenn sich ihre Bevölkerungszahl um mehr als ein Drittel nach oben oder unten von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise entfernt hat. Darüberhinaus hat der Gesetzgeber bei der Einteilung die Gesichtspunkte der Übereinstimmung mit politischen Grenzen und der landsmannschaftlichen Geschlossenheit des Wahlkreises zu berücksichtigen. Zur Wahlkreiseinteilung spricht die Wahlkreiskommission dem Gesetzgeber Empfehlungen aus. Diese Institution wird vom Bundespräsidenten ernannt und besteht aud dem Präsidenten des Statistischen Bundesamtes, einem Richter des Bundesverwaltungsgerichts und fünf weiteren Mitgliedern.
b) Die Zweitstimme
Mit der Zweitstimme wählt der Wähler die Partei, genauer gesagt die von dem jeweiligen Landesverband einer Partei aufgestellte und damit vorgegebene Landesliste für den Bundestag. Der Anteil der Zweitstimmen einer Partei entscheidet über deren Sitzanteil im Bundestag. Auf den von den Parteien aufgestellten Listen sind deren Kandidaten der Reihe nach notiert. Je weiter unten sie aufgeführt sind, desto geringer wird die Chance für denjenigen, in den Bundestag zu ziehen. Daher werden Personen, die von der Partei als Mandatsträger gewünscht werden, auf hohe, also \"sichere\" Listenplätze gesetzt. Dabei kann ein Bewerber um ein Direktmandat auch gleichzeitig auf der Liste geführt werden. Schafft er die zur Mandatserlangung notwendige relative Mehrheit im Wahlkreis nicht, so kann er eventuell noch über seinen (hohen) Listenplatz als Abgeordneter in den Bundestag einziehen.
c) Kritik und Diskussion
Die Parteien können auf die beschriebene Weise sehr weit vorplanen, wer in den Bundestag von ihnen einzieht und wer nicht. Wenn jemand direkt nicht gewählt wurde aber kraft seines Listenplatzes in den Bundestag kommt, so wird die faktische Personenbestimmung der Bevölkerung mittels wahltaktischer und personenpolitischer Strategien der Parteien weitestgehend ausgehöhlt. \"Viele Wahlkreissiege einer Partei sind daher vornehmlich kosmetischer Natur - sie beeinflussen nicht die Mandatsverteilung und nur im geringen Maße die personelle Zusammensetzung der Fraktionen.\"
Der Idee nach soll der Wähler mit der Erststimme eine Person seines Vertrauens aus seinem Wahlkreis wählen. Da er aber bei seiner Stimmenabgabe überwiegend andere Aspekte berücksichtigt (z.B. welcher Partei gehört der Direktmandatskandidat an; hat diese Partei überhaupt die Möglichkeit in dem Antrittsgebiet die relative Mehrheit zu gewinnen und wird meine Stimme andernfalls nutzlos?) sagen Kritiker, daß die eigentliche Funktion der ersten Stimme - und damit des gesamten Zweistimmensystems - unerfüllt bleibt. Die Kritik, daß die erste Stimme eher einer Partei als einer Person gegeben wird, wird auch durch die Tatsache unterstützt, daß seit der Wahl 1949, bei der drei Einzelkandidaten erfolgreich waren, kein einziger unabhängiger Kandidat mehr den Eintritt in den Bundestag geschafft hat. Ein weiterer Beleg für die angeführte Motivationsstruktur des Wählers ist das beispielhaft herausgegriffene Ergebnis der Bundestagswahl 1994. Hier schnitten die kleinen Parteien bei ihrem Erststimmenanteil im Vergleich zu ihrem Zweitstimmenanteil schlechter ab: Grüne um 0,8 und die FDP um 3,6 Prozentpunkte.
Bemängelt wird auch, daß das Zweistimmensystem in Form zwischenparteilicher Absprachen anfällig gegenüber Manipulationen ist.
Schon als fatal zu bezeichnen sind jedoch die Folgen der relativen Kompliziertheit dieses Wahlmodus auf die Wählenden. Eine Allensbach-Umfrage vom Oktober 1990 hat ergeben, daß nur ein Drittel (33%) der Bevölkerung die Frage: \"Wissen Sie zufällig, welche Stimme für die Stärke der Parteien im Bundestag den Ausschlag gibt?\" die richtige Antwort geben konnte. Mit der Unkenntnis der Bevölkerung werden somit die größten demokratietheoretischen Ansätze und ehrgeizigsten Ideen in weiten Teilen zunichte gemacht.
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