Inzwischen muss dem letzten Ignoranten zwischen Weserbergland und Schwäbischer Alb klar geworden sein, was die Vereinigung eigentlich war: eine Geldheirat. In der Hochzeitsnacht mag es ja einige Orgasmen gegeben haben. Heute, zweieinhalb Jahre danach, scheint mir der Tatbestand der Vergewaltigung in der Ehe weitgehend erfüllt. Besserung ist nicht in Sicht. Aus dem ganzen Schlamassel führt vielleicht nur ein Weg. Der Westen müsste die moralische Größe aufbringen und die DDR noch einmal völkerrechtlich anerkennen. Sozusagen posthum, und mit allen Konsequenzen. Das könnte den Leuten, die im Osten geblieben sind, vielleicht das wiedergeben, was ihnen tagtäglich genommen wird: ihre Geschichte.
Quelle: Klaus Schlesinger, in Hermann Glaser (Hrsg.): Die Mauer fiel, die Mauer steht. Ein deutsches Lesebuch 1989-1999, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1999, S.220
Die westdeutschen Parteien brachen über das Land herein und begruben unter sich alles, was sich eben geregt hatte. Mit maßloser Arroganz verkauften sie uns ihre Demokratie. Wenige haben sich gewehrt; die klägliche Schar der Dissidenten focht auf verlorenem Posten. Schon am Runden Tisch, wo wir Demokratie ganz elementar lebten, waren wir in Wirklichkeit abgeschlagen. Wir wussten es nur noch nicht. Meinen Landsleuten im Osten kann ich verzeihen, dass sie mutlos waren und geblendet von der westdeutschen Wohlstandsdemokratie. Aber den Parteistrategen im Westen, die für sich das einzig Richtige, für uns aber das genau Falsche getan haben, denen verzeihe ich ihren Raubzug nicht. Denn sie unterbrachen nicht nur das Mündigwerden, sie bedienten sich auch auf
unerträgliche Weise der christdemokratischen und liberalen und nationalen Genossen, die eine DDR lang mit der SED kollaboriert hatten. Sie bedienten sich der Stasi-Knechte und Wirtschaftshöflinge, die für den Ruin des Landes jenseits der Elbe verantwortlich sind.
Quelle: Konrad Weiss, in Hermann Glaser (Hrsg.): Die Mauer fiel, die Mauer steht. Ein deutsches Lesenbuch 1989-1999, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, S.186
Das Grundproblem der noch nicht gelungenen inneren Vereinigung sehe ich in der fortgesetzten Weigerung der auf die Vereinigung innerlich überhaupt nicht eingestellten Westdeutschen, durch die Vereinigung irgend etwas in ihrem Lebensvollzug zu ändern. Die Ostdeutschen haben sich den neuen Bedingungen in jeder Weise anpassen müssen und haben auch viele darin liegende Möglichkeiten wahrgenommen. Es gab aber eine schwer begreifliche Weigerung, die Chance der Vereinigung wahrzunehmen, nicht nur pragmatisch zu reagieren, sondern normativ. Die Chance der Anpassung des Grundgesetzes an die Herausforderungen am Ende des 20. Jahrhunderts wurde bis auf einige kosmetische Korrekturen verpasst.
Im Übrigen wurde die Ordnung der Bundesrepublik, einschließlich einiger Überleitungsgesetze, einfach auf die erloschene DDR übertragen. So muss sich hier nun alles nach den Normen der Bundesrepublik richten.
DDR-Betriebe, in das kalte Wasser der Marktwirtschaft geworfen und ohne ausreichende Liquidität, gingen entweder gleich bankrott oder werden in den nächsten Jahren den Konkurrenzkampf nicht überleben, sofern sie nicht vorher infolge der Treuhandpolitik ,,erledigt" wurden. Die gerade wieder zum Leben erwachenden Innenstädte werden sehr schnell wieder veröden, weil die Großmärkte auf der grünen Wiese alle Kaufkraft abziehen.
Nach dem Ende der Planwirtschaft müssen wir uns schon fragen, ob die Wirtschaft der Planlosigkeit uns nicht ans Ende bringt!
Seit 1989/90 verwandelte sich die Gesellschaft vom wir zum ich, von der Siegerfaust zum Sieg des Ellbogens, von
der Parole ,,Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen" zur endlich offen ausgesprochenen Parole ,,Go West", von der Sicherheit des Beschäftigungsplatzes auf die Bank im Arbeitsamt, von der hemmenden Planwirtschaft zur ungehemmten Marktwirtschaft. Nun sieht jeder zu, wo er bleibt, und findet keine Zeit zu sehen, wo der andere bleibt.
Friedrich Schorlemmer: Vom "Ruf nach Freiheit" zur Sehnsucht nach Ordnung, in: Bernward Baule/Rita Süssmuth (Hrsg.): Eine deutsche Zwischenbilanz. Standpunkte zum Umgang mit unserer Vergangenheit, Olzog Verlag, München/Landsberg am Lech 1997, S.208 ff.
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