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wirtschaft artikel (Interpretation und charakterisierung)

,,geht doch wieder rüber!"



Zehn Jahre nach der Wende ist die Kluft zwischen Ost und West eher größer denn kleiner. Die deutschen Nachbarn haben sich kennen gelernt und sind sich noch fremder geworden. Viele Westdeutsche, die in den Osten zogen, haben ihn fürchten gelernt - und flüchten zurück.


Rund zwei Millionen Ostler sind seit 1990 nach Westdeutschland gezogen - etwa eine Million in die Gegenrichtung. Allein 200.000 Berliner gingen seit der Wende ins Umland, in ,,Gartenstädte", ,,Wohnparks" oder die ,,Waldesruh"-Siedlung. Man hoffte auf gute Nachbarschaft anstelle anonymen Großstadtlebens. ,,Die ersten kehren bereits wieder zurück", stellt das Berliner Fachblatt ,,Mietermagazin" in seiner jüngsten Ausgabe fest, ,,gefrustet von abweisenden Dorfbewohnern und autoritären DDR-Pädagogen, die sie ihren Kindern nicht zumuten wollen." Die Alteingesessenen fühlten sich dagegen ,,überrollt von arroganten Wessis, die sich in ihren Reihenhaus-Siedlungen abschotten und Waldortschulen gründen wollen". Die neue deutsche Fluchtbewegung hat vor allem Familien mit Kindern erfasst, die es leid sind, dass ihre Sprösslinge in der Schule als ,,WestArsch" begrüßt oder schon mal von der Lehrerin im Unterricht gefragt werden: ,,Was sagt denn unser Ausländer dazu?"
Vor allem das Berliner Umland, so das ,,Mietermagazin", sei Schauplatz eines Ost-West-Kulturkampfes geworden - mit ,,Symptomen eines Kleinkrieges". Da wird schon mal von Unbekannten zur Kennzeichnung der ungeliebten Nachbarn der Schriftzug ,,Wessi" aufs Haus gesprüht oder ins Auto gekratzt. Jugendliche pöbeln Autofahrer an, ,,weil die aus dem Westen unsere Straßen benutzen".
Es gibt über Nacht zertrampelte Blumenbeete, zerstochene Reifen, Farbbeutel an frisch gestrichenen Neubauwänden. ,,Die Konflikte gehen über die üblichen Stadt-Land-Animositäten, wie wir sie auch in Hamburg und München erleben, weit hinaus", stellte der Soziologe Ulf Matthiesen vom ,,Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung" nach fast zweijähriger Beobachtung des Zusammenlebens in verschiedenen Gemeinden fest. Hier träfen ,,völlig unterschiedliche Mentalitäten und kulturelle Prägungen aufeinander".
Brieselang, weit draußen vor den Toren Berlins, ist eine Kleinstadt ohne jegliches Zentrum, eine Häuseransammlung im märkischen Sand. Hier hatte die West-Berlinerin Marianne Tzschentke, 47, vor sechs Jahren ein Haus im Grünen gefunden und sich, um nicht als Wessi unangenehm aufzufallen, den neuen Nachbarn ,,mit Kleidung und Frisur derart angepasst, dass ein ebenfalls zugezogener Friseur aus dem Westen mich für die erste Ostlerin hielt, mit der er gut reden konnte". Mit den Einheimischen habe sie gesprochen, ,,aber wir sind uns fremd geblieben". Immer hätten Klagen der Ostdeutschen, dass ihnen das Leben heute gar nicht gefalle, die Gespräche bestimmt. Und ihr Sohn Dominique sei - obwohl er sich die Haare kurz schneiden ließ und Jogginganzüge wie seine Ost-Mitschüler trug - als ,,verwöhnte Wessi-Sau" beschimpft worden. Endgültig genervt war die einstige West-Berliner Kinderladen-Mutter, als ihr Sohn Dennis nach einem Verkehrsvergehen auf dem Schulweg von der Direktorin angeherrscht wurde: ,,Dafür kriegst du von deiner Mutter den Arsch voll." Der Junge konterte: ,,So was macht meine Mutter aber nie." Am nächsten Morgen musste er ,zur Belehrung" vor die versammelte Klasse treten und sich in Büßermanier den Fragen der Schüler und der Lehrerin stellen.



,,Die meisten Wessis funktionieren hier nur, wenn sie Ossis werden' nicht wenn sie Wessis bleiben", resümiert Karl-Rainer von der Ahe,46, seine Ost-Erfahrung. Er zog 1992 nach Vorpommern, betreibt eine Werbeagentur und war Dozent für Geistes- und Designgeschichte an der Greifswalder Universität. Seiner Ansicht nach ist die ,,mentale Masse von 16 Millionen, die 1990 an die Bundesrepublik angedockt hat", als Problem unterschätzt worden. Viele Wessis aus der bundesrepublikanischen Großstadtkultur seien in einen ,,Staat der kleinen Leute" gezogen ,,und treffen mancherorts auf dieselbe Mischung wie in der Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre: miefig, eng, konservativ und in der Jugendkultur sogar gewalttätig". Er selbst will nun im Osten bleiben, um ,,Politik und die Kultur des Umgangs miteinander zu verändern".

 
 

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