Ehe Modrow am 13. November von der Volkskammer offizielle zum neuen Ministerpräsidenten gewählt wurde, überschlugen sich unterdessen die Ereignisse an den Grenzen der DDR. Am 1. November hatte die SED Führung bereits neue Reisebestimmungen für die Tschechoslowakei erlassen, womit sich der Massenexodus weiter fortsetzte. Das Ausmaß der Ausreisen war inzwischen so groß, daß sogar die Bundesrepublik Probleme hatte, die Menschenmassen abzufertigen. Innenminister Wolfgang Schäuble warnte daher, die Bundesrepublik werde zwar weiterhin alle Übersiedler aufnehmen, doch müßten diese damit rechnen, für längere Zeit in relativ bescheidenen Verhältnissen zu leben. Bundeskanzler Kohl erklärte in seinem \"Bericht zur Lage der Nation\" am 8. November vor dem Bundestag, Bonn sei bereit, der neuen DDR-Führung bei der Umsetzung ihrer Reformen zu helfen. Wenn es einen wirklichen Reformprozeß gebe, werde man sogar \"eine neue Dimension wirtschaftlicher Unterstützung\" für die DDR erwägen. Auch der Kanzler plädierte also für Hilfen vor Ort statt für eine Übersiedlung in die Bundesrepublik. Aber er verknüpfte sein Hilfsversprechen für die DDR mit klaren Bedingungen sprach von einer \"nationalen Verpflichtung\" seiner Regierung, das \"Recht auf Selbstbestimmung für alle Deutschen\" zu fordern.
Krenz und die neue SED Führung waren sich von Anfang an darüber im klaren gewesen, daß eine Beruhigung im Lande nur durch neue Reisebestimmungen zu erzielen waren. Obwohl der Entwurf noch einige Ungereimtheiten enthielt, wurde er am 6. November veröffentlicht. Der in der Presse publizierte Entwurf stieß aber einhellig auf Ablehnung. Was man vor einem halben Jahr noch als Sensation empfunden hätte, stieg jetzt allgemein auf Ablehnung. Aus dem Reisegesetz war zu entnehmen, daß jeder Reise einzeln beantragt werden mußte und nur dreißig Tage dauern dürfte. Außerdem werde es keine Devisen geben. Die daraufhin folgenden Demonstrationen zeigten sich aggressiver als bisher. Man forderte die uneingeschränkte Reisefreiheit.
Die SED war zum schnellen Handeln gezwungen, das alte Reisegesetz wurde verworfen und von Krenz, der nach einem neuerlichen Rücktritt des Politbüros wieder neuer Generalsekretär war, neu aufgesetzt. Diese neu verfaßte Reiseordnung wurde am Abend des 9. Novembers schließlich Günter Schabowski ausgehändigt, der die neuen Bestimmungen der Presse vortrug, obwohl über das Papier noch nicht abgestimmt worden war. Weiters sagte Schabowski, daß das Gesetz für den freien und ungehinderten Reiseverkehr sofort in Kraft trete. Kurz darauf machten sich tausende Menschen auf den Weg zu den Grenzübergängen, die wenig später völlig überfüllt waren. Die Grenzsoldaten, die über den neuen Gesetzteserlaß noch nicht Bescheid wußten, waren mit der Situation völlig überfordert und öffneten angesichts der Menschenmassen die Grenzen nach Westdeutschland.
Unterdessen befand sich Bundeskanzler Helmut Kohl in Warschau, der, überrascht von der Nachricht, sehr zurückhaltend reagierte und das ganze gar nicht glauben wollte. Keiner hätte eine so schnelle, direkte Öffnung der Grenzen zum Westen je für möglich gehalten.
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