Alle in der Sowjetunion schwärmten von Pripjat. Eine Stadt, in der es alles gab. 50.000 Menschen lebten dort, darunter 16.000 Kinder. Die Bewohner waren Auserwählte. Nirgendwo gab es sauberere Straßen, üppigere Blumenrabatten, bessere Schulen, geräumigere Wohnungen und so viele gebildete Leute, glaubten die Einwohner. Vermutlich hatten sie recht. Sie verdienten dreimal mehr als der Durchschnittssowjetmensch, fingen im Fluss Pripjat Zander und Krebse, genossen saubere Luft und brauchten nicht monatelang auf ein neues Auto zu warten. Sie lebten als geschlossene Gesellschaft in einer geschlossenen Stadt; Pripjat war ein militärisches Forschungszentrum, alles war geheim. Die Einwohner kannten keine Existenzängste. Das Atomkraftwerk Tschernobyl garantierte ihren Wohlstand.
Vier Reaktoren produzierten bereits Strom. Block fünf und sechs waren im Bau. Auf der anderen Seite des Flusses plante man sechs weitere Reaktoren. Die Menschen in Pripjat meinten, die Zukunft zu besitzen. Bis zum 25. April 1986. An diesem Freitag wollte man Block 4 abschalten und überholen. Aber zuerst musste er noch ein Experiment durchstehen. Ein Experiment, das nachweisen sollte, daß der Reaktor selbst in einer äußerst heiklen Situation abgeschaltet werden konnte. Die Experten entwarfen ein entsprechendes Versuchskonzept und suchten ein AKW vom Typ Tschernobyl, das bereit war, das Experiment zu wagen. Ähnliche Versuche hatte man in der Sowjetunion früher schon erfolgreich durchgeführt. Aber diesmal lehnten alle angefragten Kraftwerksdirektoren ab, weil sie das Versuchskonzept für zu riskant hielten. Bis auf die Chefs von Tschernobyl. Sie wollten das Experiment durchführen, weil sie an ihr Atomkraftwerk glaubten. Die meisten von ihnen waren kompetente Fachleute, hatten aber ihre Erfahrung in Wasser- und Kohlekraftwerken gesammelt und arbeiteten erstmals in einer Atomanlage. Block 4 produzierte seit Dezember 1983 Strom. Es war ein graphitmoderierter Druckröhren-Siedewasserreaktor mit einer elektrischen Leistung von 1.000 Megawatt. Das Herzstück dieses AKW-Typs bildet ein gewaltiger Graphitblock von zwölf Meter Durchmesser und sieben Meter Höhe.
Dieser Graphitblock ist von siebzehnhundert senkrechten Kanälen durchzogen, in die man Bündel von Brennstäben lädt. Die Brennstäbe sind mit Uran gefüllt. Das Graphit dient als Moderator und bremst während der Kernspaltung dieNeutronen, um die Kettenreaktion aufrechtzuerhalten. Gekühlt werden die Uranbrennstäbe mit Wasser, das zu kochen beginnt und teilweise verdampft. Den Dampf führt man oben aus dem Reaktordruckbehälter ab, um damit die beiden gigantischen 500-Megawatt-Turbinen anzutreiben. Mit Steuerstäben, die in den Graphitblock eingeschoben werden, lässt sich der Reaktor regulieren; sie absorbieren die Neutronen und unterbrechen dadurch die Kettenreaktion. Sind alle Steuerstäbe eingefahren, hört die Kernspaltung auf. Die Steuerstäbe können jedoch nur mit einer Geschwindigkeit von 40 Zentimeter pro Sekunde eingefahren werden. Ein Teil der Stäbe darf deshalb nie zu weit aus dem Graphitblock gezogen werden, damit man den Reaktor im Notfall stoppen kann - diese Stäbe bezeichnet man als . In der Nacht vom Donnerstag auf Freitag, den 25. April 1986 beginnen die Operateure von Block 4 den Reaktor herunterzufahren. Am Mittag läuft der Reaktor mit halber Kraft und treibt nur noch eine Turbine an. Planmäßig schalten die Operateure um 2 Uhr nachmittags das Notkühlsystem ab. Doch dann verlangt Kiew plötzlich länger Strom. Dem Wunsch kommen die Operateure nach, sie lassen die eine Turbine weiterlaufen, versäumen es aber, das Notkühlsystem wieder einzuschalten - ein klarer Verstoß gegen die Sicherheitsregeln, doch er bleibt ohne weitere Folgen. Am Abend ist Kiew zufriedengestellt, um 11 Uhr nachts beginnt man deshalb, die Leistung des Reaktors weiter abzusenken. Doch ein Operateur macht Fehler, die Leistung fällt zu schnell. Davor fürchtet sich das Betriebspersonal, weil dadurch der Reaktor \"vergiftet\" wird: Bei der Kernspaltung entsteht Xenongas, das Neutronen absorbiert. Bei hoher Leistung wird das Xenon umgewandelt und damit eliminiert. Doch bei niedriger Leistung vermehrt es sich.
Schaltet man nun den Reaktor ab, wenn sich sehr viel Xenon darin befindet, dann kann man ihn während vieler Stunden nicht mehr starten, weil das Xenon die Neutronen -die eigentlich Uranatome spalten sollten- verschlingt und die Kettenreaktion verunmöglicht. Um die sogenannte Xenon-\"Vergiftung\" zu verhindern, hebt der Operateur die Leistung wieder an. Dazu muß er weitere Steuerstäbe herausziehen. Die Leistung steigt, die Gefahr einer \"Vergiftung\" ist gebannt, doch hat man keine Abschaltreserven mehr. Das wäre kein Problem gewesen, wenn man zu diesem Zeitpunkt auf das Experiment verzichtet hätte. Inzwischen ist es 1 Uhr 19. Im Kommandoraum realisiert man, daß das Kühlwasser zu warm wird. 3 Minuten und 30 Sekunden später meldet der Computer, daß die Abschaltreserven bedrohlich klein sind und der Reaktor sofort abgeschaltet werden muß. Man nimmt dies zur Kenntnis, unternimmt aber nichts, weil es schließlich vorkommt, daß der Rechner falsche Angaben liefert. Um 1 Uhr 23 beginnt man mit dem Experiment. Die Crew will den Reaktor abstellen, aber er ist bereits instabil. Man blockiert noch ein weiteres Notabschaltesystem, um das Experiment, falls es im ersten Anlauf mißlingen sollte, wiederholen zu können. Statt zu fallen, steigt nun die Leistung. Der Reaktor beginnt durchzugehen. Um 1 Uhr 23 und 40 Sekunden befiehlt der Schichtleiter, den roten Knopf für die Notabschaltung zu drücken. Die Steuerstäbe sollten in den Graphitblock fallen und unverzüglich die Kernspaltung stoppen. Vermutlich hat aber die Hitze bereits die Kanäle deformiert, die Stäbe bleiben nach zwei, zweieinhalb Metern stecken und rühren sich nicht mehr. Statt den Kern zu beruhigen, heizen die Steuerstäbe noch an.
Später wird man sagen: Ein Konstruktionsfehler. Sein Notabschaltesystem reagiert in diesem Moment wie ein fehlkonstruiertes Bremspedal, das sich bei einer Vollbremsung in ein Gaspedal verwandelt. Der Reaktor wird kritisch. Um 1 Uhr 24 erreicht er eine Leistung von 300.000 Megawatt. Die Brennstäbe schmelzen, das Kühlwasser verdampft. Eine Dampfexplosion reißt die tonnenschwere Abdeckung vom Block 4 weg. Trümmer prasseln auf Block 3, an verschiedenen Stellen bricht Feuer aus, es herrscht ein heilloses Durcheinander. Verwirrte Mitarbeiter stürmten in den Kommandoraum und schrien: \"Oben geht etwas Schreckliches vor sich... Die Blöcke vom Element 11 hüpfen herum, als wären sie lebendig... Und diese Explosionen... Man schickt zwei junge angehende Operateure nach oben in den Zentralsaal. Sie sollten nachschauen, was vor sich ging. Im Korridor schlug ihr Dosimeter aus, 1.000 Mikroröntgen pro Sekunde - höher ging die Skala nicht. Das Dosimeter, das 1.000 Röntgen pro Stunde hätte messen können, brannte durch.Die beiden jungen Männer bahnten sich einen Weg zum Zentralsaal, Armaturen, Leitungen und Rohre baumelten in der Luft. Über sich sahen sie die Sterne und dort, wo der Reaktor hätte sein sollen, einen brennenden Krater. Sie waren ungeschützt, und ihnen schlugen 30.000 Röntgen entgegen. Zwei Minuten an einem solchen Ort reichen aus, um eine tödliche Dosis zu absorbieren. Die beiden Männer kehren zurück und erklärten, den Zentralsaal gebe es nicht mehr, die Explosion habe alles zerstört, der Reaktor brenne.
Aber Viktor Brjuchanow, Direktor des AKW, übernahm die Legende vom intakten Reaktor, übermittelte sie nach Moskau. Siebzehn Stunden lang pumpte man Kühlwasser in einen vermeintlich intakten Reaktor; das Wasser floß durch die Ruine und sammelte sich im Kellergeschoß der Anlage. Am selben Vormittag stieg der Elektromonteur Michael Meteljew, der in Pripjat lebte, aufs Dach seines Wohnblocks. Er wollte sich sonnen. Nach kurzer Zeit kam er herunter. Holte ein Glas Wasser und sagte zu seinem Nachbar, daß er unheimlich schnell braun geworden sei. Außerdem fühle er sich beschwingt, als ob er Alkohol getrunken hätte. Unweit vom AKW wird auf einem Fußballfeld ein Spiel ausgetragen. Die Menschen in Pribjat genossen den ersten Frühlingssonntag, die Kinder spielten auf der Straße, sechzehn Hochzeiten wurden gefeiert.
An diesem Tag war die Welt in Tschernobyl noch in Ordnung, doch es sollte nicht lange dauern, bis sich das ganze Ausmaß der Katastrophe zeigte. Seit diesem Tag hat sich nicht nur Tschernobyl, sondern die ganze Welt verändert - Nichts ist mehr wie es einmal war und die Folgen dieses Unglücks werden die Menschheit noch in vielen Generationen spüren. und Dörfer um Tschernobyl gab. Verstrahlt - verlassen - verloren. Zum Teil den Erdboden gleichgemacht, zum Teil verlassen, menschenleer. \"Die Zeit heilt Wunden\", so sagt man hier in Deutschland. Nur die Wunden von Tschernobyl werden niemals heilen können. Die Ukraine ist und bleibt eine offene Wunde. Der Tod ist eingezogen, man spricht von vielen Tausend Menschen |