"Wir wurden zum Umschlagplatz geführt. Zu diesem hundertmal verfluchten Platz, der mit Blut und Tränen getränkt war und erfüllt vom Kreischen der Lokomotiven, die hunderttausende Juden von hier aus zur Endstation ihres Lebens brachten. Die verzweifelte und bis zum Äußeren erregte Menge drängte sich auf dem weiten Platz. Die Grenze des Platzes bildete ein großes Gebäude, das vor dem Krieg eine Schule beherbergt hatte. Die hierher getriebenen Menschen waren zum größten Teil Arbeiter aus den Baracken und von auswärtigen Arbeitsplätzen auf der arischen Seite, alle Inhaber von Ausweisen, die bis vor kurzem noch das "Lebensrecht" garantiert hatten. Als sie heute zur gleichen Zeit, wie immer unter SS-Bewachung, in ihre Wohnungen zurückkehrten, aus denen schon vorher ihre Angehörigen und ihr Hab und Gut verschleppt worden waren, gerieten sie in die Falle. Eine hohe mauer und eine lebende Sperre von Polizisten und Nazis, die nicht einmal so zahlreich, dafür aber bis an die Zähne bewaffnet waren, trennten uns vom Ghetto und seinen Schlupfwinkeln. Dort waren mein ältester Bruder und meine Tante mit ihrer Tochter zurückgeblieben, sie hatten heute nicht mit uns hinaus auf die Straße gehen wollen. Angespannt warteten wir, was passieren würde, und hielten Ausschau nach einem möglichen Fluchtweg. Mein Vater drückte uns an sich und küsste meine Mutter, meinen Bruder und mich. Er hielt uns krampfhaft mit der Hand fest und ließ uns keinen Schritt von ihm weichen, vor allem meine Mutter nicht, die sich unentwegt hin- und herwand, weil sie versuchen wollte, uns irgendwie aus diesem Gedränge herauszuschaffen und ins Innere des Schulgebäudes zu schmuggeln , wo die Ambulanz und ein Posten der jüdischen Polizei untergebracht waren. Dort wollte sie uns verstecken und auf keinen Fall zulassen, dass wir in die Wagons getrieben würden. Mein Vater war so aufgeregt und bestürzt, dass er an Rettung nicht einmal denken konnte. Er war nur noch dazu im Stande, den Nazis seinen Passierschein vorzuzeigen; bis zum letzten Moment glaubte er daran, dass dieser Schein uns allen die Rettung bringen würde. Er hatte Angst. Er meinte, dass Ungehorsam gegenüber den SS-Leuten unseren Untergang nur beschleunigen würde. Meine Mutter war anders. Deshalb hielt ich mich immer an sie, fest davon überzeugt, dass sie einen Ausweg aus jeder schlimmen Situation finden würde. In der Gegenwart meines Vaters empfand ich genau das Gegenteil. Und hier auf dem Umschlagplatz erging es mir eben so. Um diese Zeit standen die Wagons bereit. Wir glaubten, die ganze Nacht dort zubringen zu müssen, bis in der Frühe ein Zug eintreffen würde. Das bot gewisse Chancen zur Flucht, zur Rückkehr ins Ghetto, auf unseren Dachboden...
Plötzlich bemerkten wir, dass sich die Nazis mitten auf dem Platz vor uns aufgestellt hatten und Maschinengewehre auf diese riesigen, dicht zusammendrängte Menschenmenge gerichtet hielten, die mit einem schreckerfüllten Raunen darauf reagierte. Allen war klar, was das zu bedeuten hatte, doch keiner wagte aufzuschreien oder in lautes Weinen auszubrechen. Wieder herrschte diese unruhige, spannungsgeladene Stille. Wir umarmten uns; jeder wollte das Bild derer, die ihm am nächsten waren, mit in die völlige Finsternis nehmen. Alles andere, alles, was wir bisher erlebt und um das wir gekämpft hatten, war nicht mehr wichtig. Während mein Vater nur halb bei Besinnung war, wirkte meine Mutter ruhig wie immer. Sie lächelte mich sogar an. "Hab' keine Angst!", flüsterte sie mir zu. "man stirbt nur einmal"... und wir sterben jetzt alle miteinander, hab keine Angst, es wird nicht so schlimm (S.69 Erzählt es euren Kindern)!
|