Handeln im Bereich der Werte. Sittliche Grundhaltung. Sittliche Werte. Das Mittlere. Sittliche Einsicht. Wählen und Entscheiden.
Durch Handeln erreicht der Mensch die Güter (I,2,S.8), die Gegenstand des Strebevermögens seiner Seele sind, sofern er nach klarem Plan vorgeht (I,1,S.8). Da die Güter durch die Zweck-Mittel-Operation hierarchisch geordnet sind und ihre Anzahl offensichtlich endlich ist, gibt es ein oberstes Gut, welches im Sinne eines Zieles durch Handeln erreicht werden kann: das Glück (vgl. Kap.I). Es ist zugleich ein Endziel, etwas Vollendetes, etwas Wertvolles, für sich allein Genügendes (I,5,S.16). Dieses Endziel muß allerdings aktiv verwirklicht werden durch notwendiges und wertvolles Handeln (I,9,S.20), es darf nicht durch akzidentelle oder zwanghafte (V,11,S.140) Umstände zustandekommen und nur dann gilt: \"... wertvolles Handeln ist ein Ziel und das Streben geht in diese Richtung.\" (VI,2,S.154 ff). Aristoteles bestimmt nun wertvolles Handeln durch Rückgriff auf einzelne Ziele (Güter), etwa auf das Edle(IV,2,S.88) oder das Lustvolle und das Schöne (III,1,S.56). An anderer Stelle (Kap.II) wurde dargelegt, \"...daß aus den wiederholten Einzelhandlungen die festen Grundhaltungen hervorgehen...\" (III,7,S.68). Wer sich im wertvollen Handeln übt, wird zum wertvollen Menschen: er handelt so auf Grund von Entscheidung und um der Sache selbst willen (VI,13,S.173).
Die feste Grundhaltung (Habitus), die sich im Umgang mit dem Wertcharakter von Handlungen herausbildet (II,1,S.35) führt schließlich zu den erwünschten \"Vorzügen des Charakters\" (II,1,S.34), deren Ausformung Aristoteles ein dringendes pädagogisches Anliegen zu sein scheint (II,1,S.35). Es wurde bisher von Werten, aber noch nicht von sittlichen Werten gesprochen. Der Begriff der Sittlichkeit taucht erstmals in Form der \"sittlichen Grundhaltung\" (I,2,S.9) auf und wird mit einem Vers von Hesiod unterlegt, in dem die Adjektive \"gut\", \"edel\", \"nichtig\" und \"unnütz\" offensichtlich die Konnotation zum Sittlichkeitsbegriff leisten sollen. Eine weitere indirekte Anbindung an den Sittlichkeitsbegriff erfolgt über die Einführung der Begriffe der \"sittlichen Vortrefflichkeit\" (I,9,S.20), bzw. der \"sittlichen Trefflichkeit\" (ebd.) und der \"sittlichen Vorzüge\" (ebd.). Das \"sittlich wertvolle\" (I,9,S.21) Handeln schließlich wird implizit definiert über den Begriff der Freude, des Schönen und des Wertvollen: \"...so sind sittliche Handlungen in sich freudevoll. Aber nicht nur dies, sondern auch wertvoll und schön und zwar beides im höchsten Grade...\" (I,9,S.21). Sittliches Handeln - so darf man wohl schließen - ist ein Handeln \"...im Bereich dessen, was für den Menschen wertvoll oder nicht wertvoll ist...[und, Anm.d.Verf.] wertvolles Handeln ist selbst Endziel.\" (VI,5,S.160).
Da jeder Handlung und jedem Affekt ein Erlebnis von Lust und Unlust folgt (II,2,S.38), hat der Handelnde mit diesen seelischen Phänomenen einen \"Maßstab\" an der Hand (II,2,S.39), mit dem er eigene, aber auch fremde Handlungen bewerten kann. Dieser Maßstab mißt allerdings noch nicht direkt die sittliche Trefflichkeit fremder Personen, denn die sittlich wertvollen Handlungen (edles und großzügiges Handeln etwa, vgl. I,9,S.21) und Leistungen als Ausfluß der sittlichen Trefflichkeit (I,9,S.20) müssen ja \"...erstens wissentlich, zweitens auf Grund einer klaren Willensentscheidung...und drittens mit fester und unerschütterlicher Sicherheit...\" (II,3,S.40) erfolgen. Diese Tatbestände gehören aber zum Innenaspekt einer Fremdhandlung, d.h. sind der Beobachtung nicht direkt zugänglich. Was getan werden kann - und dessen nimmt sich auch die Staatskunst an, indem sie den Bürger zur Übung anleitet bzw. ihn \"formt\" -, ist die systematische Ausbildung des Mittleren in den einzelnen Charakterzügen (in den \"Vorzügen des Charakters\", wie es bei Aristoteles heißt und die mitunter auch als \"Tugenden\" übersetzt werden ). Was diese Mitte, auf die insbesondere die charakterliche bzw. sittliche Tüchtigkeit abzielt (II,5,S.44), im einzelnen ausmacht, wie sie sich ausprägt und zwischen welchen Extremen sie sich plaziert, das wird im aristotelischen Werk (ab III,9) breit ausgeführt. Diese Ausführungen stellen das Rüstzeug zur Verfügung für die ethische Analyse der sich entfaltenden Einzelakte (II,7,S.46). \"Die sittliche Tüchtigkeit aber entfaltet sich eben auf dem Gebiet der irrationalen Regungen und des Handelns, wobei das Zuviel ein Fehler ist und das Zuwenig getadelt wird, das Mittlere aber ein Treffen des Richtigen ist und gelobt wird\" (II,5,S.44).
Hierbei handelt sittlich wertvoll, wer freiwillig und auf Entscheidung fußend planvoll handelt. Dazu bedarf es der sittlichen Einsicht, einer der Fähigkeiten der Seele, durch welche diese die \"Erkenntnis des Richtigen\" vollzieht (VI,3,S.156). Sittliche Einsicht ist \"...eine mit richtigem Planen verbundene, zur Grundhaltung verfestigte Fähigkeit..., die auf das Handeln im Bereich der Werte abzielt, die dem Menschen erreichbar sind.\" (VI,5,S.160). Der Erreichbarkeit der Werte korrespondiert dabei die Veränderbarkeit im Seinsbereich (VI,6,S.161 und VI,12,S.170): hier treffen sich sittliche Einsicht und Handeln. So kann Aristoteles resümieren: \"Das Wesen der sittlichen Einsicht ist Handeln.\" (VI,8,S.163). Wenn es zum Entschluß zu einer sittlichen Handlung kommt, wirken sittliche Einsicht und Vorzüge des Charakters zusammen: \"Denn die letzteren bewirken, daß die Zielsetzung richtig ist, und die Einsicht weist die richtigen Wege zum Ziel\" (VI,13,S.172).
Wir fassen zusammen: Handlungen wird ein Wertcharakter zugeschrieben über den inneren Maßstab von Lust und Unlust, ferner über den äußeren Maßstab von Lob und Tadel. Dieser Maßstab mißt das Zuviel, das Zuwenig und das Mittlere einer Handlung und es ist das Mittlere, das gelobt wird. Sittliche Handlungen erfolgen aufgrund sittlicher Einsicht, einem vollkommenen Zustand eines Seelenteiles, und einer Entscheidung sowie um der Sache selbst willen.
Faßt man das bisher Gesagte in eine formale Struktur, so kommt man zu folgendem Ansatz: die Trägermenge der Sittlichkeitsstruktur ist zum einen Seiendes, das Veränderungen zuläßt (VI,6,S.161). Zum anderen sind es die Handelnden selbst mit dem in Kap.II dargestellten psychischen Struktur (Aufbau und Funktion der Seele, aber auch körperliche Ausstattung). Letztlich gehören auch die Güter, die durch Handeln erreicht werden zur Basis einer solchen Struktur. Ausgezeichnete Elemente sind: in V: diejenigen Entitäten, die in unserer Macht stehen und verwirklicht werden können als Mittel und Wege (aus den Bereichen Natur und Geist, vgl. III,5,S.62) in Richtung auf ein Handlungsziel , in H: aktiv Handelnde mit sittlicher fester Grundhaltung, die auf richtiges Maß und rechte Mitte abzielen, in G: wertvolle Güter (Aristoteles nennt verschiedene, z.B. das Edle, das Schöne, das Lustvolle, aber auch sittliche Einsicht oder philosophische Weisheit). Relationen (Eigenschaften) auf diesen Mengen sind z.B.: (1) die Seele hat eine Funktion der sittlichen Einsicht, die auf das Handeln im Bereich der Werte abzielt (VI,5,S.160); (2) sittliche Einsicht ist mit richtigem Überlegen und Planen verbunden und eine zur Grundhaltung verfestigte Fähigkeit (VI,5,S.159); (3) sittliche Einsicht hat befehlende Kraft, sie bestimmt, was zu tun und was zu unterlassen ist (VI,11,S.168).
In symbolischer Schreibweise stellt sich die rekonstruierte Struktur der Sittlichkeit im Ansatz der Nichomachischen Ethik wie folgt dar:
(5) (V,H,G,v,h,g,R1,...Rn)
mit Trägermengen: V: Bereich des Seienden, das Veränderungen zuläßt, H: Handelnde mit ihrer körperlichen und seelischen Verfasstheit, G: durch Handeln erreichbare Güter; ausgezeichnete Elemente: v: die in unserer Macht stehenden Dinge, h: aktiv verwirklichendes, notwendiges und wertvolles Handeln, g: wertvolle Güter, z.B. das Edle; Relationen: R1: sittliches Handeln zielt auf den Bereich der Werte ab, R2: die Vorzüge des Charakters bewirken richtige Zielsetzungen, die sittliche Einsicht weist die richtigen Mittel und Wege zum Ziel (VI,13,S.172) etc.
Anmerkungen
1) Verwendete Literatur: Aristoteles: Nikomachische Ethik; Übersetzung u. Nachwort von Franz Dirlmeier, Anmerkungen von Ernst A. Schmidt, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1999
2) NE steht abkürzend für den Buchtitel: Nikomachische Ethik
3) Zitiermodus: z.B. (II,2,S.36) = Buch II, Kapitel 2, Seite 36 der RECLAM Ausgabe
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