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wirtschaft artikel (Interpretation und charakterisierung)

Gründerzeit und börsenkrach



Eine neue Epoche der Wiener Börse begann am 1. Jänner 1855, als ein neues Börsenpatent in Kraft trat. Für die Leitung der Börse wurde eine eigene Kommission geschaffen, die den Namen \"Börsekammer\" erhielt und aus 18 Börseräten bestand. Diese wurden von der Regierung auf Vorschlag des Großhandelsgremiums des bürgerlichen Handelsstandes und der Handelskammer bestellt. Damit wurde ein wichtiger Schritt in Richtung der heute bestehenden Autonomie der Börsenverwaltung getan. Als staatliches Aufsichtsorgan wurde ein Börsekommissar bestellt. Der Besuch der Börse war weiter von der Ausstellung einer Börsenkarte abhängig. Für den Handel und die Abwicklung der Börsengeschäfte erhielt man genaue Regeln. Die Börsenleitung wurde ermächtigt, Personen vom Börsenhandel auszuschließen.
In den beiden nächsten Jahrzehnten trat die ursprüngliche Aufgabe der Wiener Börse, zentraler Markt für Staatspapiere zu sein, immer mehr in den Hintergrund. Die sogenannte Gründerzeit brachte nun zahlreiche Aktienemissionen an die Börse. Durch Aktienausgabe wurde das Kapital für Banken- und Industriegründungen sowie für den Eisenbahnbaubeginn geschaffen. Der Markt für diese Papiere war die Wiener Börse. Eine lange Konjunkturperiode und eine liberale Wirtschaftspolitik begünstigten eine hektische, zum Teil unsolide Gründertätigkeit und eine gewaltige Börsenhausse. Diese ging mit der stürmischen Ausdehnung des Börsenhandel und einer Spekulationswelle Hand in Hand. Die Zahl der Besuchsberechtigten (Jahresraten) stieg zwischen 1868 und 1873 von 835 auf 2941. Der Börsensaal im Bank- und Börsengebäude in der Herrengasse (heute Palais Ferstl) wurde zu klein. Die Börse übersiedelte in ein provisorisches Börsengebäude am Schottenring, da das heutige Börsengebäude erst in Bau war. Etwa im selben Zeitraum stieg die Zahl der notierten Aktien von 39 auf 378. Die staatliche Verwaltung schränkte die freudige Vergabe von Gründungskonzessionen nur zögernd ein. Entgegen der Warnung der Börsekammer ließ sie auch weiterhin Börsenbesucher und neue Aktienemissionen großzügig zur Börse zu.
Das Ende des Wirtschaftsaufschwunges und die enttäuschen Hoffnungen auf die wirtschaftsbelebende Wirkung der \"Wiener Weltausstellung\" 1873, ließen auch Gründungsschwindel und Börsenspekulation zusammenbrechen. Beim Wiener Börsenkrach vom 9. Mai 1873 sanken die Kurse innerhalb kürzester Zeit ins Bodenlose. Die Existenz der Spekulanten wurde vernichtet. Auch viele Aktiengesellschaften, vor allem unsolide Gründungen, verschwanden wieder aus dem Kursblatt. In der nun einsetzenden Depression dauerte es Jahre bis sich die Wiener Börse von diesem Rückschlag wieder erholen konnte. In dieser Notsituation wurde das Börsegesetz vom 1. April 1875 erlassen, das mit wenigen Änderungen bis 1989 das Börsewesen in Österreich regelte. Durch dieses wurde die Wiener Börse autonom, regelte ihre Angelegenheiten durch ein selbst gegebenes Statut und unterstand von da ab einer selbstgewählten Leitung. Der Staat behielt sich jedoch das Aufsichtsrecht sowie die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Notierung vor. 1876 wurde die 1872 gegründete Warenbörse mit der Wertpapierbörse organisatorisch vereinigt. 1877 wurde das heutige Börsengebäude fertiggestellt und bezogen. Im Börsenhandel traten die öffentlichen Anleihen wieder in den Vordergrund. Die Industriefinanzierung verlagerte sich vom Aktienmarkt weg zu den Großbanken. Neue antiliberale politische Bewegungen standen der Börse ablehnend gegenüber und bestritten sogar deren volkswirtschaftliche Bedeutung.

 
 

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