Als supranationale Organisation nimmt die EU in autonomer Weise Aufgaben wahr, die bisher von den Mitgliedstaaten in Eigenverantwortung ausgeführt wurden, ohne daß eine genaue Zuständigkeitsabgrenzung zwischen den Kompetenzbereichen der Mitgliedstaaten einerseits und der EU andererseits erfolgte. So verfügt die EG zwar über keine eigenen vollziehenden Organe in den einzelnen Mitgliedstaaten, jedoch greift ihre rechtssetzende Tätigkeit zu einem großen Teil direkt auf die Bürger und Behörden in den Mitgliedstaaten durch, die dadurch, - insofern es sich um unmittelbar anwendbare Normen des Gemeinschaftsrechts handelt - direkt verpflichtet und berechtigt werden, ungeachtet allenfalls anders lautender nationaler Normen.
So hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung immer wieder bestätigt, daß alle Normen des Gemeinschaftsrechts, die der Sache nach hinreichend bestimmt sind, d.h. zu ihrer Anwendbarkeit keiner weiteren Ausführungsakte bedürfen, unmittelbar wirksam sind.
Für den Einzelnen hat die unmittelbare Wirksamkeit einer Norm die wichtige praktische Bedeutung, daß er sich vor den mitgliedstaatlichen und EU-Behörden und Gerichten auf sie berufen kann. Im Konfliktfall verdrängen jene Bestimmungen des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts, die unmittelbar anwendbar sind, die dem Gemeinschaftsrechts widersprechenden Vorschriften des nationalen Rechts.
Auch wenn die Zuständigkeit der EU zwar formal dem Grundsatz der beschränkten bzw. Einzelermächtigung folgt, so entwickelt sich der Aufgabenbereich der EU auf Grund neuer Interpretation jedoch ständig weiter (so vor allem in den Bereichen des öffentlichen und privaten Wirtschaftsrechts, des Verkehrsrechts, des Umweltrechts, des Arbeits- und Solzialrechts, des Bildungs- und Steuerrechts).
Die Rechtssetzung im Rahmen der EU erfolgt durch Gemeinschaftsorgane, in den bindende Beschlüsse auch gegen den Willen eines Mitgliedstaates zustanden kommen können. Durch den Umstand, daß die Kontrolle bezüglich Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechtes ausschließlich dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zukommt, wird im Bereich der Rechtskontrolle dem bestehenden österreichischen Kontrollsystem ein weiteres gleichermaßen übergeordnet.
Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH zum Vorrand des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht einschließlich nationalen Verfassungsrechts ist jeder Rest staatlicher Kontrolle am Maßstab einzelstaatlicher Vorschriften unvereinbar.
Die Übernahme dieses spezifischen Rechtssystems, dessen Besonderheit vor allem im Anwendungsvorrang sowie in der unmittelbaren Wirkung zum Ausdruck kommt, zieht somit wesentliche Änderungen des demokratischen, des gewaltentrennenden, des rechtsstaatlichen sowie des bundesstaatlichen Grundprinzips nach sich, sodaß entsprechend der Bestimmung des Art. 44 Abs. 3 B-VG, nach der jede Gesamtänderung der Bundesverfassung einer Volksabstimmung zu unterziehen sei, vor der Unterzeichnung des Beitrittsvertrages eine Volksabstimmung durchgeführt werden mußte.
Gegenstand der Volksabstimmung am 12. Juni 1994 war das anläßlich des Beitritts Österreichs eigens erlassene Beitritts-BVG, welches eine Ermächtigung der zuständigen österreichischen Organe zum Abschluß des Staatsvertrages über den Beitritt Österreichs zur EU entsprechend dem am 12. April 1994 von der Beitrittskonverenz festgelegten Verhandlungsergebnis enthielt. Das EU-Beitritts-BVG bewirkt somit die Gesamtänderung der österreichischen Bundesverfassung nicht selbst, sondern es enthält bloß die dafür nötige Ermächtigung.
Die Gesamtänderung wurde somit nicht durch das Inkrafttreten des EU-Beitritts-BVG, sondern erst durch das Inkrafttreten des Beitrittsvertrages bewirkt.
Inhalt des Beitritts-BVGs sind einerseits Regelungen, die den Abschluß des Beitrittsvertrages zur Europäischen Union ermöglichen, sowie sonderverfahrensrechtliche Bestimmungen betreffend die parlamentarische Genehmigung des Beitrittsvertrages. Die Öffnung der österreichischen Rechtsordnung für die gesamtändernden Wirkungen einer EU-Mitgliedschaft ist hiermit erfolgt. Mit dem Beitritts-BVG gilt in Österreich nicht nur der genannte Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit sondern auch der des Anwendungsvorranges des Gemeinschaftsrechtes.
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