Eine weitere charakteristische Eigenschaft mathematischen Denkens ist: Die Entwicklung und Untersuchung von Methoden, die unendliche Bereiche einem endlichen Intellekt so zugänglich zu machen, dass präzise und begründbare Aussagen über sie möglich werden. Oder auf den Charakter der Mathematik überhaupt ausgeweitet: "Will man ein kurzes Schlagwort, welches den lebendigen Mittelpunkt der Mathematik trifft, so darf man wohl sagen: sie ist die Wissenschaft vom Unendlichen" (Weyl, 1926).
Als erstes betrachten wir das Problem der "unendlich kleinen (infinitesimalen) Größen", das bereits in der Antike den Zwiespalt zwischen Prozess und Entität (Wesenheit) darlegte. In der frühen griechischen Antike wurden die Grundzahlen durch Vervielfachung der Eins erzeugt gedacht (nur die Eins selbst erhielt gelegentlich einen irritierenden Sonderstatus). Man fragte sich ob ähnliches nicht auch für geometrische Strecken gelte. Aber da man jede Strecke beliebig klein vorgeben kann, gibt es keine "Einheitsstrecke", mit der sich alle geometrischen Strecken messen ließen. Und aus der Unmöglichkeit, die Wurzel aus Zwei als Bruch darzustellen, was schon den Phytagoreern bekannt war, und somit ihrer These von der Ganzzahligkeit aller Verhältnisse im Kosmos entgegengesetzt (diese Tatsache wird oft als erste mathematische Grundlagenkrise bezeichnet), folgt die Nichtvergleichbarkeit von Seite und Diagonale z.B. eines Quadrats. Die frühen griechischen Mathematiker fragten sich ob man nicht die Punkte auf einer Strecke als deren Elemente auffassen könnte, obwohl Punkte keine Ausdehnung besitzen. Oder konnte man doch durch Aneinanderreihung unendlich vieler Punkte ("unendlich kleine Strecken") eine Strecke erhalten?
Zenon aus Elea (5.Jh. v. Chr.) zeigte in mehreren "zenonischen Paradoxien" die Widersprüchlichkeit einer solchen Auffassung. Wohl können wir eine Strecke halbieren, die Hälften wieder halbieren, immer wieder ohne Ende. Aber gerade wegen dieser Unendlichkeit ist es unmöglich eine Strecke "von unten" beginnend aufzubauen. Die wohl bekannteste Paradoxie ist die von "Achill und der Schildkröte". Gibt Achill der Schildkröte fairerweise einen Vorsprung, so hat er schon verloren, denn er kann die Schildkröte nie mehr einholen, er muss ja immer erst bis zu einem Punkt eilen, den die Schildkröte bereits verlassen hat, so dass die beiden immer durch eine, zwar kleiner werdende, aber dennoch endliche Strecke getrennt scheinen. Diese Überlegung ist wahrlich paradox, scheint sie auf den ersten Blick geradezu plausibel, führt aber dennoch zu einem falschen Ergebnis.
Eine "Auferstehung" erlebte die Idee von infinitesimalen Größen, genauer einer Zahl, die die archimedische Eigenschaft nicht erfüllt (eine zahl die größer ist als Null, aber trotzdem kleiner als Eins bleibt, egal wie oft man sie zu sich selbst addiert), im ausgehenden 17. Jh., durch Leibniz (1646-1716), Newton (1643-1727) und L´Hôpital (1661-1704), in der Begründung der Infinitesimalrechnung, die (so wird behauptet) eine zweite "Grundlagenkrise" loslöste. Man macht sich den Zusammenhang leicht an Darstellungen klar, die sich bis heute in anschaulich orientierten Lehrbüchern der Differential- und Integralrechnung finden (vgl. Schulübungen zu Differentialrechnung Ι, 7.Klasse; zu Integralrechnung, 8.Klasse). Gegeben sei z.B. die Funktion y = x im Intervall [0,a]; analog zur Schulübung wird die endliche Basis x der Trapeze (die dem Graphen um- und eingeschrieben werden) zur unendlich kleinen Basis dx, und somit die Fläche als aus lauter unendlich schmalen Trapezen aufgebaut gedacht. Zu welcher Fläche sie sich "summieren" lehrt die Integralrechnung: ∫x dx (in den Grenzen 0 und a) Genauso ist diese Vorgehensweise für nicht geradlinige Kurven anwendbar, wenn dx eben "unendlich klein" wird. Es kann kein Zweifel sein, dass diese Vorgehensweise nichts als geschickte Mogelei ist. Leibniz behauptete nicht, dass infinitesimale Größen wirklich existierten, nur dass man ohne in einen Irrtum zu verfallen, so argumentieren könne als ob sie existierten. Im Jahre 1734 erschien eine niederschmetternde Kritik der Infinitesimalrechnung von Berkley: Er erklärte das Leibnizsche Verfahren (die Differentialrechnung) nach dem schlussendlich z.B. 32 + 16 dt gleich sein soll wie 32 als unverständlich; noch dazu wird zu Beginn der Rechnung der Bruch ds/dt als ungleich Null angesehen. "Es wird auch nichts nützen zu sagen, dass das vernachlässigte Glied eine äußerst kleine Größe ist, denn dann hätten wir nicht die exakte Geschwindigkeit, sondern nur eine Approximation". Im 19. Jh. Konnte Weiestraß mit Hilfe seiner heute üblichen "Epsilon-Delta" Definition (die Geschwindigkeit wird danach nur als Grenzwert betrachtet) die infinitesimalen Methoden aus der Analysis vertreiben (ähnlich ging bereits Aristoteles mit seinem Ausschöpfungsverfahren vor). Nichtsdestotrotz haben Physiker und Ingenieure nie aufgehört sie zu benützen. Zu ergänzen bleibt, dass mit Abraham Robinson (1918-1974) und seiner "Erfindung" - der Nichtstandardanalysis - infinitesimale Größen wieder Einzug in die Mathematik fanden. Heute ist ihr Begriff nicht länger eine widersprüchliche Redensart, sondern ein präzis definiertes Konzept, das so legitim ist wie jedes andere in der Analysis.
Kehren wir zurück ins 19.Jh., zu Georg Cantor, der als Begründer der Mengenlehre bereits erwähnt wurde. Im oben erwähnten Zwiespalt, wie man "das Unendliche" beurteilen sollte, als Entität oder als Eigenschaft eines Prozesses, gilt Cantor als Verfechter der These, z.B. als eine unendliche Dezimalzahl aufzufassen, als abgeschlossene Wesenheit. Cantor hatte mit herber Kritik, wie z.B. von Leopold Kronecker zu kämpfen, der meinte Unendlichkeiten wären keinesfalls als existent und manipulierbar zu betrachten, denn wer hat je die ganze Zahlenfolge von gesehen; am Besten man belastet sich nicht mit so vagen Begriffen. Bereits Galilei (1564-1642) fiel auf, dass man der Reihe der natürlichen Zahlen mit einfachen Mitteln die Quadratzahlen, die ungeraden Zahlen usw. zuordnen kann (es gibt genauso viele gerade Zahlen wie Grundzahlen, und ebenso viele ungerade Zahlen). Er lehnte ab bei Unendlichem mit Attributen wie der Gleichheit zu argumentieren; mit Cantor hat die Mathematik Möglichkeiten gefunden in unendlichen Bereichen von "größer", "kleiner", und "gleich" zu sprechen; natürlich nicht im gleichen Sinn wie bei endlichen Bereichen.
Cantor hat jeder Menge von Objekten eine Mächtigkeit zugeordnet (wobei die Mächtigkeit einer endlichen Menge einfach die Anzahl ihrer Elemente ist). Die Mächtigkeit der natürlichen Zahlen hat er mit א0 (Aleph Null, die erste Kardinalzahl) bezeichnet, ebenso alle Reihen die sich den natürlichen Zahlen eindeutig zuordnen lassen, wie die Quadrat-, die Prim-, sogar ganze und rationale Zahlen. Solche Mengen heißen abzählbar, da man ihre Elemente der Reihe nach durchnummerieren kann und dabei jedes ihre Elemente eine Zahl als Nummer erhält. Er zeigte weiters, dass diese Zahl sehr eigentümlichen arithmetischen Gesetzen folgt; z.B. ist א0 + א0 = א0 ; א0 + 1 = א0
Die neuen "tranfiniten" Zahlen, unterscheiden sich gerade in diesen Gesetzen von den finiten Zahlen. Weiters postuliert Cantor eine zweite Art der Unendlichkeit c (für continuum), die durch eine Strecke dargestellt wird, oder durch die Menge aller reeller Zahlen, die ja wie Cantor bewies nicht in einer Folge erschöpfend aufgezählt werden können. Die Reaktionen auf Cantors Behauptungen waren verschieden. Hilbert bezeichnete die transfinite Arithmetik "als die bewundernswerteste Blüte mathematischen Geistes und überhaupt eine der höchsten Leistungen rein verstandesmäßiger menschlicher Tätigkeit". Wittgenstein machte hingegen nur desillusionierende, fast karikierende Bemerkungen: " Man könnte antworten: - Ein Lineal mit einem unendlichen Krümmungsradius."
Nun endlich zum
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