Für H. LINDE ist es angezeigt, die Klärung des Begriffs "Sache" mit Hans FREYER beginnen zu lassen. Dies hat vor allem deswegen (gerade für die handlungsorientierte Soziologie) seinen Reiz, weil FREYER dem Handlungsbegriff einen zentralen Stellenwert in seinem kulturphilosophischen System zuweist. Im Rahmen von zweckgerichteten Handlungsabläufen werden Sachen (FREYER spricht von "Gerät" und dessen profaner Verwendung z.B. im Rahmen der Technik als technischem Faktor) wirksam, indem sie eine menschliche Verhaltensanpassung erforderlich machen können: "Das Gesamtbild des Handlungsverlaufes wird natürlich durch die Einführung...dieses technischen Faktors verändert, einfach deswegen, weil das Vorhandensein dieser Form die vergegenständlichte Struktur des Wirkungsfeldes verändert hat, dem die Handlung sich anpassen muss" . Inwieweit hier schon das Moment des Sozialen herauskristallisierbar ist, sei dahingestellt, denn noch haben wir ein Verhältnis ego-res vorliegen und nicht ein ego-alter oder ego-alter-res Verhältnis. Auch ist die Art der Anpassung noch nicht spezifiziert . Unter die Kategorie Gerät subsummiert FREYER profane Artefakte, die dadurch gekennzeichnet sind "...dass sie (a) vergegenständlichte Teilstücke aus einem zwecktätig gerichteten Handlungszu¬sammenhang darstellen und dass sie daher (b) erst und nur durch notwendig hinzutretende objektspezifische profane Akte der Verwendung ihren Zweck erfüllen..." . Die Eigenschaft der Profanität dient der Abgrenzung gegen eine andere Kategorie von Artefakten, zu denen etwa Kunstwerke, Symbole oder Zeichen gehören. Innerhalb der Kategorie Gerät wird man die dort versammelten Artefakte nach ihrer Funktion unterteilen in Gebrauchs- und Erwerbsgerät und nach ihrer technischen Struktur etwa in: Werkzeuge, Apparate, Maschinen, Automaten etc.
Wenn man mit dem Bezugspunkt FREYER beginnt, dann wird die Forschheit der Sachbegriffsdefinition von LINDE augenfälliger. En passant bekommen wir das Phänomen Intentionalität (Absicht einer Handlung) und Fabrizität (durch Arbeit Hergestelltes) mitgeliefert: "Als Sachen bezeichnen wir im folgenden -im Unterschied zu naturgegebenen Dingen- alle Gegenstände, die Produkte menschlicher Absicht und Arbeit sind" (S.11). So umfassen Sachen -wie erwartet- einmal das gesamte technische Arsenal: "Behausungen, Arbeitsstätten, Energiequellen[sic!], Verkehrs- und Kommunikationswege und -mittel usw. bis hin zum Kernreaktor und zum weltumspannend verfügbaren Life-Bild der Mondlandung" (S.11 ff.), aber andererseits auch Artefakte, die aus züchterischer Absicht bzw. Pflegenutzung hervorgegangen sind und in das hineinreichen, "was wir unreflektiert noch als Natur erleben und bezeichnen" (ib.). Als Beispiele für solche Sachen werden genannt: domestizierter Tierbestand sowie Ergebnisse der Bodennutzung, also Feld, Wald, Wiese, Weide (vgl. S.11). Die Ausgrenzung von Kunstwerken (die ja wohl auch in absichtlicher Arbeit gefertigt werden) gelingt unserem Autor erst unter Zuhilfenahme von FREYERs Gerätekategorie (s.o.) über den Weg der weiteren Einengung (vgl. S.12). Die rein "naturgegebenen Dinge" (vgl. Definition weiter oben) dagegen sind negativ definiert durch das Fehlen der "züchterischen Absicht" bzw. der "Nutzung": unkontrolliertes Wildleben bzw. Wildwuchs von Unkraut und Ungeziefer (vgl. S.11).
Doch wächst dieses mit der o.a. Definition gelieferte Startkapital begrifflicher Merkmale von "Sachen" im Laufe der vorliegenden Untersuchung weiter an: Intentionalität (LINDEs Ausgangsdefinition) wird zu Zweckrationalität (mittels Bezugnahme auf FREYERs Gerätekategorie) und diese wird (nach der Analyse der Regelungsabhängigkeit bei DURKHEIM und der Regelungsunabhängigkeit bei M. WEBER ) zu einer verhaltens¬regelnden bzw. verhältnisbegründenden Qualität (vgl. S.59 ff.). Der "soziologische Witz" an den Sachen liegt für LINDE also gerade darin, dass sie einerseits Personen oder Personengruppen von außen Zwänge auferlegen, also Verhalten in diesem Sinne regeln oder regulieren und andererseits Sozialverhältnisse begründen, Sozialstrukturen aufspannen. Beides begründet den sozialen Stellenwert der Sachen.
Doch damit nicht genug: betrachtet man den Lebenszyklus einer Sache, so beginnt das Besitzverhältnis mit dem Erwerb bzw. der Aneignung (juristisch: mit dem Übergang), es folgt die Gebrauchsphase und dann (die bei LINDE völlig fehlende) Entsorgung . Sachen unterliegen in der ersten Phase der institutionell (z.B. juristisch) geregelten Appropriation , d.h. gehen in ein Eigentums- und Besitzverhältnis zu Personen bzw. Personengruppen ein. Damit verbunden ist (a) die Art und Weise der Sachaneignung (z.B. durch Kauf) und (b) die sich daran anschließende Organisation der Dispositions- und Verfügungsgewalt dieser Person(en) über die betreffende Sache. Beides sind sozial relevante Tatbestände: "...die Festlegung des Appropriateurs, seines Vermögens..., seiner Interessen und ihrer Erfolgschancen auf eine der Sache inhärente Zweck/Mittel-Kombination auf Zeit, ist also die erste kategoriale Bestimmung, welche den Einfluss von Sachen auf den Zusammenhang gesellschaftlichen Handelns begründet" (S.68). In der Phase des Sachgebrauchs kommt als zweite kategoriale Bestimmung der Sachen (Typ: Gebrauchsgerät als Vermittler zwischen Konsument und Produzent) hinzu: "Einkauf des Sacheigners in ein vom Sachproduzenten kontrolliertes, sachzentriertes Leistungssystem und damit eindeutig ein Akt klientelartiger Vergesellschaftung, terminiert auf die Lebensdauer des appropriierten Sachaggregates" (S.72).
In der Sphäre der Erwerbsgeräte ("Produktionsmittel" nach MARX) spielt das durch die Sache vermittelte soziale Verhältnis Arbeitgeber-Arbeitnehmer eine zentrale Rolle: "Die zwingende Orientierung beider Vertragspartner auf die zum Vollzug der in der techno¬logischen Struktur des Aggregates programmierten Verwendungsakte notwendigen Fähigkeiten. Damit erscheint die technologische Struktur der Sache als die regierende Instanz auch dieser Klasse von Sachverhältnissen" (S.74). Das soziale Moment besteht für LINDE nun gerade darin, dass in der Konstruktion der Sache zweierlei festgelegt ist: der Eigner hat mit diesem Produktionsmittel z.T. die Festlegung seines Vermögens bestimmt, der Nutzer oder Bediener des Produktionsmittels hat seine Fähigkeiten und Fertigkeiten an dieser Sache zum Inhalt seiner Erwerbschancen gemacht.
Die Soziologie der Sachen hat mit der gesellschaftswissenschaftlichen Analyse des technischen Fortschritts die folgenden Untersuchungsgegenstände gemein: "a) den manifesten sozialen Zwang zur Ausbildung kohärenter Sachsysteme, b) den manifesten sozialen Zwang zur progressiven Dynamisierung dieser Systeme und c) zur sozialen Hierarchisierung und Privilegierung des Sachverstandes und schliesslich d) den permanenten Reaktionszwang auf latente Effekte der Sachverwendung" (S.76).
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