Eine "unerhörte Begebenheit": Stefan Zweigs "Schachnovelle"
Kurzbiographie
1881 geboren in Wien als Sohn eines wohlhabenden Industriellen
ab 1890 Studium der Philosophie, Germanistik und Romanistik in Berlin und Wien
1914 - 1918 Aufenthalt in der Schweiz bei Romain Rolland
1919 - 1935 Aufenthalt in Salzburg
1920 Heirat mit Friderike Maria Burger
1927 "Sternstunden der Menschheit" (Erzählungen)
1932 "Marie Antoinette" (historischer Roman)
1935 "Triumph und Tragik des Erasumus von Rotterdam" (historischer Roman)
1935 Emigration nach England
1938 "Ungeduld des Herzens" (Roman)
1940 Emigration nach Brasilien
1941 "Schachnovelle" (Novelle)
1942 Selbstmord in Rio de Janeiro
Stefan Zweigs Romanschaffen war immens; die große Form des Romans scheint die kleine, die Novelle, fast zu verdecken. Und doch besitzt gerade die "Schachnovelle", die Zweig nur wenige Wochen vor seinem Tod niedergeschrieben hatte, eine ganz besondere Faszination: Zum einen reduziert und verdichtet der Autor die Handlung auf ein Minimum, zum anderen spürt jeder Leser die politische Brisanz - die brutale Geistlosigkeit Czentovic´ steht symbolisch für den Faschismus und gegen den bürgerlichen Humanismus des Dr. B. - und Authentizität dieses Büchleins.
Inhalt
Der Ich-Erzähler beobachtet, wie ein Millionär auf einer Schiffsreise von New York nach Buenos Aires den an Bord befindlichen Schachweltmeister Mirko Czentovic zu einer Simultanpartie herausfordert, indem er ihm Geld anbietet. Als der Herausforderer die Partie schon für verloren hält, greift ein bislang Unbeteiligter, der österreichische Emigrant Dr.B. ein und erreicht zumindest ein Remis. An dieser Stelle gibt der Autor Auskunft über die Biographie Dr.B.s: Dieser hatte sich fast ein Jahr lang in Wien in Gestapo-Haft befunden und konnte sich seine Widerstandskraft in den Verhören nur bewahren, weil er sein Nervenkostüm heimlich durch das Nachspielen von 150 Meisterschachpartien gestärkt hatte. Als er dadurch aber in den Zustand der Schizophrenie geriet, wurde er aus der Haft entlassen.
Im folgenden Spiel zwischen Czentovic und Dr.B. siegt der Österreicher souverän. Der Weltmeister aber, der als stumpfsinnig, träge und langweilig dargestellt wird, will diese Blamage nicht auf sich sitzen lassen und fordert Dr.B. zu einer Revanche. Am Höhepunkt dieses zweiten Spiels verfällt Dr.B. wieder in jenes Nervenfieber und bricht das Spiel ab. Er verläßt den Spieltisch mit dem festen Vorsatz, sich nie wieder im Schachspiel zu versuchen.
Die novellistische Struktur der "Schachnovelle" zeigt sich an einigen typischen Merkmalen: Die Begegnung zwischen Dr.B. und Czentovic steht für die "sich ereignete, unerhörte Begebenheit" im Sinne goethescher Novellentheorie. Das Schachbrett (oder besser: das Schachspiel) ist das in jeder Novelle notwendige Dingsymbol, der Ausbruch des Nervenfiebers während der Partie Czentovic´ gegen Dr.B. der Höhe- und damit gleichzeitig der Wendepunkt.
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