"Die Dichtung, [...] -: diese Unendlichsprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst!" (GWIII, 200)
Marlies Janz bezeichnet den "Meridian", Celans Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises im Jahr 1960, als den "Versuch einer Theorie von Lyrik nach Auschwitz" . Diese Rede stellt die wichtigste und umfangreichste dichtungstheoretische Äußerung Celans dar. Jeder interpretative Umgang mit Celans Gedichten sollte mit der Deutung dieser Poetik beginnen, da ein Verständnis seiner Lyrik ansonsten zweifellos Glücksfall bleiben muß - wiewohl gewöhnlich zwischen dem Werk und dessen Rezeption durch den Autor selbst unterschieden wird.
Der berühmt gewordene Satz "[...] sollen wir, [...] Mallarmé konsequent zu Ende denken?" (GWIII, 193) aus dem "Meridian" und ähnliche Strukturmerkmale der Poetiken Celans und Mallarmés veranlaßten frühe Interpreten Celans, in ihm einen "Nachfolge[r] des späten Mallarmé" zu sehen, was Celan selbst jedoch mehrfach und zu Recht bestritten hat. Schon 1958 schreibt er:
"Die deutsche Lyrik geht, glaube ich, andere Wege als die französische. [...] Ihre Sprache ist nüchterner, faktischer geworden, sie mißtraut dem ,Schönen', sie versucht, wahr zu sein." (GWIII, 167)
Im "Meridian" nimmt er einige der wichtigsten Postulate der poésie pure zurück und entwickelt in einem kritischen Durchgang durch deren Vorstellungen seine eigene Position:
"Die Frage nach der Möglichkeit des absoluten Gedichts aufgreifend und den Anspruch darauf bekräftigend, gelangt er [...] im Namen einer gleichwohl nicht ästhetisch begründeten Utopie zu poetologischen Bestimmungen, die einerseits der poésie pure verbunden sind, andererseits aber deren artistische Beschränkungen zugunsten eines an jener Utopie orientierten Realismus überschreiten."
Celans ambivalente Haltung gegenüber der poésie pure erklärt sich durch die außerästhetischen Bezugspunkte seines schriftstellerischen Schaffens; W. Menninghaus spricht von einer "geschichtliche[n] Erfahrung und Reflexion im Innern von Celans Intention auf die Sprache" - mit dieser Erfahrung ist die unter der Herrschaft der Nationalsozialisten von Deutschland ausgehende Verfolgung und Vernichtung der Juden gemeint. Demnach ist Celans Auffassung der Sprache eng mit dem Erleben des Massenmords am jüdischen Volk verbunden. Die Sprache trägt einerseits Mitverantwortung für das Geschehen (weil sie daran teilgenommen hat), ist andererseits aber selbst durch die Auslöschung der Namen der jüdischen Opfer verwundet worden und damit ihrerseits Opfer. Auf der Ebene der Struktur der sprachlichen Zeichen versucht Celan nun Momente aufzufinden, die er analog zu jenen historischen Geschehnissen als "Finsternisse todbringender Rede" (GWIII, 186) versteht. Im Einbringen dieser Momente in das Gedicht liegt die Chance, "die Sprache vom Makel der Duldung maßloser Verbrechen durch die Konfrontation mit ihrer eigenen ,Dialektik der Vernichtung' (Vietta) zu reinigen" - hier erfolgt das bewußte Einbeziehen der Destruktion und des Schweigens. Es handelt sich also um den Versuch, die Sprache bis an ihre Grenzen zu treiben, wo die Voraussetzungen für ein lebendiges Sprechen gegeben sind, dem keine Schuld durch Verschweigen von Verbrechen anhaftet.
Bei Mallarmé ist diese "Durchquerung des Nichts" eine Station auf dem Weg zum Erlangen von Schönheit. Für Celan ist es der Weg des Dichters, der "mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend." (GWIII, 186) Im Zentrum seiner Sprache und poetologischen Vorstellungen stehen die genannten historischen Bezüge - so ist seine Frage zu verstehen: "Aber schreiben wir uns nicht alle von solchen Daten her?" (GWIII, 196) Celan geht es um eine Reflexion der Strategien der Dichtung, wozu er im "Meridian" Kunst und Dichtung einander gegenüberstellt.
Zuerst wird Kunst im Hinblick auf ihre artifiziellen Implikationen charakterisiert, wodurch sie den negativen Beigeschmack von "Künstlichkeit" erhält:
",Nichts als Kunst und Mechanismus, nichts als Pappendeckel und Uhrfedern!'" (GWIII, 188)
"Die Kunst, das ist, Sie erinnern sich, ein marionettenhaftes, jambisch-fünffüßiges und [...] kinderloses Wesen." (GWIII, 187)
Celan nimmt hier Bezug auf das Kunstgespräch zwischen Danton und Camille in Büchners "Dantons Tod" und bringt so dessen Urteil über eine entleerte, das Leben stilisierende idealistische Kunst ein. Büchner setzt gegen den (kritisierten) klassizistischen Idealismus eine eigene "Ästhetik des Kreatürlichen" . Celan ortet hier ein allgemeines Dilemma der Kunst: Das künstliche Moment macht die Kunst generell fragwürdig.
In "Dantons Tod" personifiziert Büchner diese Problematik. Auf der einen Seite stehen die Revolutionäre, die Gespräche über Kunst führen und am Ende ihren Tod auf dem Schafott kunstvoll für die Nachwelt inszenieren, auf der anderen Seite steht Lucile, die "Kunstblinde" (GWIII, 189), der alles Künstliche fremd ist und die für Celan die Dichtung repräsentiert. Sie sieht nur sprechen, achtet aber nicht auf den Gehalt des Gesagten und ist damit für Celan
"[...] jemand, der hört und lauscht und schaut . . . und dann nicht weiß, wovon die Rede war. Der aber den Sprechenden hört, der ihn ,sprechen sieht', der Sprache wahrgenommen hat und Gestalt, und zugleich auch [...] Atem, das heißt Richtung und Schicksal." (GWIII, 188)
Der Satz "Es lebe der König", den Lucile am Ende des Dramas nach der Hinrichtung ihres Freundes Camille ausspricht, führt zwangsläufig zu ihrer Verhaftung. Für Celan ist es das "Gegenwort, [...] das Wort, das sich nicht mehr vor den ,Eckstehern und Paradegäulen der Geschichte' bückt, es ist ein Akt der Freiheit." (GWIII, 189) Mit diesem "Gegenwort" spricht Lucile ihr eigenes Todesurteil, sie führt ihr Ende herbei, "indem sie lediglich ihrer individuellen, unverfälschten Neigung gehorcht, ohne Effekt oder Wirkung zu kalkulieren." Im Gegensatz zu den Revolutionären, denen es nur um die Wirkung ihrer Worte geht, sie sind daher von "subjektfremden Zwecken bestimmt" , läßt sich Lucile nicht im Namen einer Idee niederzwingen, sondern behauptet ihre Subjektivität.
Während die Äußerungen der Revolutionäre Bestandteil der entleerten Kunst geworden sind, weil sie die Vermittlung mit dem subjektiven Leben des einzelnen nicht mehr leisten können, substituiert Lucile deren künstlich gewordenes Pathos durch "ein Sprechen, in dem das Individuum als Atem und Schicksal präsent bleibt. Ihre Sprache ist [...] belebt. Zudem ist ihr subjektiver Protest gegen den Tod des Geliebten zugleich objektiv ein Protest gegen den herrschenden Terror; ihre sofortige Verhaftung belegt dies." Lucile findet also eine Sprache für ihr subjektives Leiden, die zugleich objektiv Widerstand enthält. Diese Sprache bezeichnet Celan als "Dichtung".
"Dichtung, wie sie in der Gestalt Luciles verkörpert ist, zeichnet sich dadurch aus, daß sie wandlungsfähig auf die Wirklichkeit reagiert und ein individuelles ,Gegenwort' formuliert, in der Hoffnung, daß dieses auch über den Einzelnen hinaus Geltung besitzen kann."
Nach Celan bezeugt Dichtung die "Gegenwart des Menschlichen" (GWIII, 190) besonders dort, wo physische und psychische Leiden das Individuum bedrängen.
Obwohl Dichtung und Kunst bisher als Gegensätze behandelt worden sind, legt Celan in der Folge dar, daß Dichtung ohne Kunst nicht bestehen könne. Einerseits muß nämlich die ästhetische Dimension von Sprache im Gedicht künstlerisch entfaltet werden, andererseits muß sich die Dichtung auch einer gewissen künstlerischen Eigengesetzlichkeit unterwerfen, will sie von der Alltagssprache verschieden sein.
Die Kunst bleibt aber ein "Hinaustreten aus dem Menschlichen" (GWIII, 192), das "ästhetische Stilisationsprinzip der idealistischen Kunst tötet durch Abbildung, indem es das Lebendige fixiert." Celan vergleicht das künstlerische Vorgehen mit der mortifizierenden Wirkung eines Medusenhaupts in Anspielung auf Büchners Lenz:
",Man möchte ein Medusenhaupt' sein, um . . . das Natürliche als das Natürliche mittels der Kunst zu erfassen! [...]
Das ist ein Hinaustreten aus dem Menschlichen, [...] in einen dem Menschlichen zugewandten und unheimlichen Bereich - denselben, in dem [...] die Automaten und damit . . . ach, auch die Kunst zuhause zu sein scheinen." (GWIII, 192)
Büchner, der "Dichter der Kreatur" (GWIII, 192), setzt der tötenden Kunst mit "unvergeßlichen Zeilen über das ,Leben des Geringsten', die ,Zuckungen', die ,Andeutungen', das ,ganz feine, kaum bemerkte Mienenspiel', [...] das Natürliche und Kreatürliche entgegen." (GWIII, 191) Celan sieht darin aber keinen Ausweg mehr, zumal er den mortifizierenden Charakter der Kunst mit der tatsächlichen Vernichtung von Leben verbindet. Damit verschärft sich nicht nur der Gegensatz zwischen Dichtung und Kunst, es stellt sich die Frage nach der Existenzberechtigung der Kunst - und somit auch der Dichtung.
"Der Dichter, der in der gegenwärtigen Epoche, seinem künstlerischen Impuls entsprechend, in den auf der Ebene des Ästhetischen ehemals legitimen Bereich des Inhumanen eintreten will, um im Medium der Kunst ,Leben um des Kunstwerks willen zu mortifizieren' (Janz), sieht sich im Gegensatz zu einem Dichter der Zeit Mallarmés mit der Tatsache konfrontiert, daß in unmittelbarer historischer Nähe eine gigantische reale Vernichtungsmaschinerie am Werke war."
Celan kommt zur Frage:
"Dürfen wir, wie es jetzt vielerorts geschieht, von der Kunst als von einem Vorgegebenen und unbedingt Vorauszusetzenden ausgehen, sollen wir, um es ganz konkret auszudrücken, vor allem - sagen wir - Mallarmé konsequent zu Ende denken?" (GWIII, 193)
Mallarmé vertritt die Position der Kunst, die Celan trotz aller Problematik nicht vollständig zurückweist und als Teil der Dichtung sieht:
"Und Dichtung? Dichtung, die doch den Weg der Kunst zu gehen hat? Dann wäre hier ja wirklich der Weg zu Medusenhaupt und Automat gegeben!" (GWIII, 193)
Auf diesem Weg distanziert sich das Ich des Künstlers oder desjenigen, der Kunst aufnimmt, von sich selbst. "Wer Kunst vor Augen und im Sinn hat, der ist [...] selbstvergessen." (GWIII, 193) Baudelaire und Mallarmé strebten eine Abspaltung des lyrischen Ichs vom Alltags-Ich an, forderten eine Trennung von Kunst und Leben. Für Celan bedeutet das: "Kunst schafft Ich-Ferne." (GWIII, 193) Wie läßt sich nun diese "Ich-Ferne" der Kunst mit der geforderten Hinwendung zur Kreatur in der Dichtung vereinbaren?
"Vielleicht - ich frage nur -, vielleicht geht die Dichtung, wie die Kunst, mit einem selbstvergessenen Ich zu jenem Unheimlichen und Fremden, und setzt sich - doch wo? doch an welchem Ort? doch womit? doch als was? - wieder frei?
Dann wäre Kunst der von der Dichtung zurückgelegte Weg - nicht weniger, nicht mehr." (GWIII, 193f.)
Um zu vermeiden, daß Dichtung den "Weg zu Medusenhaupt und Automat" (GWIII, 193) geht, muß sie also durch die Position der Kunst reflektierend hindurchgehen. Dichtung muß sich im Durchgang durch die Kunst wieder freisetzen, d.h. sie geht zwar den Weg der Kunst, einen Weg des Unheimlichen und Inhumanen, gewinnt aber das Ich schließlich wieder zurück. Diese Freisetzung der Dichtung von der Kunst, die Freisetzung des Ich nennt Celan "Atemwende":
"Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten. Wer weiß, vielleicht legt die Dichtung den Weg - auch den Weg der Kunst - um einer solchen Atemwende willen zurück? Vielleicht [...] schrumpft gerade hier das Medusenhaupt, vielleicht versagen gerade hier die Automaten - für diesen einmaligen kurzen Augenblick?" (GWIII, 195f.)
P. Lacoue-Labarthe definiert Celans "Atemwende" als "Konversion des Ich, das dem Dasein sich öffnet, und, in ihm, dem Menschlichen ,statt' gibt." Sie ist mit einer subjektiven Entäußerung der Kreatur verbunden, die eine notwendige Reaktion auf eine bedrohliche Welt darstellt; Luciles "Gegenwort" etwa entspricht einer solchen Entäußerung. Deshalb vermutet L. Koelle den Ort der "Atemwende" dort, wo der Mensch unfreiwillig und unausweichlich seinem Tod ausgesetzt ist. Der Sinnlosigkeit solcher Situationen werden allein absurde Gesten gerecht.
Die idealistische und mimetische Kunst muß beim Eingedenken an Schreckliches versagen, sie begibt sich stets in die Gefahr, die Todeszone zu ästhetisieren. Auch Adorno schreibt in einem Essay über Arnold Schönberg von "Erfahrungen, welche der Kunst schlechthin sich entziehen" .
Im Gegensatz dazu die Dichtung: "Vielleicht darf man sagen, daß jedem Gedicht sein ,20. Jänner' eingeschrieben bleibt?" (GWIII, 196) Das Datum "20. Jänner" taucht am Beginn Büchners "Lenz" auf, es liegt aber nahe, daß Celan damit auch auf den 20. Jänner 1942 anspielt, den Tag der Wannsee-Konferenz in Berlin, an dem die Endlösung der Judenfrage beschlossen wurde.
Celan stellt einen neuen, absoluten Anspruch an das Gedicht, der im Zusammenspiel von Kunst und Dichtung besteht. Aufgrund dieser inneren Widersprüchlichkeit sagt Celan vom absoluten Gedicht:
"Das absolute Gedicht - nein, das gibt es gewiß nicht, das kann es nicht geben!" (GWIII, 199)
Die inneren Widersprüche der poetischen Sprache können nirgends zu einer endgültigen Auflösung gelangen, die Dialektik von Kunst und Dichtung bleibt bestehen. Der Weg der Dichtung gleicht vielmehr einer Kreisbewegung - deshalb findet Celan schließlich das geeignete Sinnbild dafür: den Meridian .
"Ich finde etwas - wie die Sprache - Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes und dabei - heitererweise - sogar die Tropen Durchkreuzendes -: ich finde . . . einen Meridian." (GWIII, 202)
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