Die Juden sollen in den Städten in Ghettos zusammengeführt werden, wo man sie leichter kontrollieren und von wo man sie später wegführen kann. Die dringendste Aufgabe ist es, darauf hinzuwirken, dass die jüdischen Händler vom platten Land verschwinden. Diese Aufgabe muss innerhalb der nächsten 3-4 Wochen erledigt worden sein. Solange die Juden als Händler auf dem Lande sind, muss mit der Wehrmacht abgeklärt werden, welche Juden am Ort bleiben dürfen, um die Lebensmittelversorgung der Truppe zu sichern. Folgende Anordnung wurde gegeben:
1. Die Juden in die Städte so schnell wie möglich.
2. Die Juden raus aus dem Deutschen Reich und nach Polen.
3. Die übrig gebliebenden Zigeuner auch nach Polen.
4. Systematische Verbringung der Juden aus deutschen Territorium mit Güterzügen.
(Sicherheitspolizei- und SD- Chef Heydrichs Anordnung vom 27.September 1939, wie die Juden zusammengeführt werden sollen!)
Nach der Entfesselung des 2. Weltkrieges am 1. September 1939 zwang die deutsche Besatzungsmacht die polnischen Juden, ihre Wohnstätten zu verlassen und in bestimmte Stadtteile zu ziehen. Die ersten neuen Ghettos entstanden Anfang 1940, bald gab es hunderte kleinerer und größerer Ghettos überall in Polen. Diese Ghettoisierung bildete den Beginn eines Konzentrations- und Sammlungsvorgangs, der später die Ermordung organisatorisch erleichterte. Deutsche Besatzungsbehörden fassten in vielen dieser Ghettos nicht nur die jüdische Bevölkerung aus der Region zusammen, sondern auch hierher deportierte Juden und "Zigeuner" aus Deutschland wie Österreich. Die Lebensumstände in diesen Quartieren waren unerträglich. Die deutschen Behörden verhinderten bewusst, dass normale Regeln einer Gesellschaft in den Ghettos verwirklicht werden konnten: Die Ghettos waren Todesfallen.
Ein wichtiges Element bildete die absichtlich herbeigeführte extreme Enge. So mussten beispielsweise im Warschauer Ghetto über 400000 Menschen hausen: Für eine Person nur etwa siebeneinhalb Quadratmeter Platz! Familien lebten mit 15 und mehr Menschen in einem einzigen Raum. Die Schwierigkeiten, Lebensmittel zu erhalten, bedeuteten für Ghettoinsassen einen täglichen Kampf ums Überleben. Deutsche Behörden teilten im Warschauer Ghetto ungefähr 200 Kalorien pro Tag zu. Zum Vergleich: Diätkost zum Abnehmen in einem Krankenhaus liegt heute bei etwa 1000 Kalorien. Deshalb waren die Ghettobewohner auf das Schmuggeln von Nahrungsmitteln angewiesen. Wen sie aber mit versteckten Lebensmitteln ertappten, den erschossen deutsche Wachen oft unmittelbar. Diese unvorstellbaren Lebensverhältnisse im Ghetto führten unausweichlich zu Krankheiten und schweren Epidemien, vor allem Typhus. Die so erzeugte "natürliche" Sterblichkeitsrate stieg mit der Zeit dramatisch an: Im Jahr 1941 starb einer von 10 Bewohnern des Warschauer Ghettos an Hunger und Krankheiten. Krankenfürsorge war kaum möglich, weil jüdische Arzte und Krankenschwestern über keinen Zugang zu Medikamenten verfügten und auch stärkende Nahrung oder geeignete Krankenlager waren nicht vorhanden. Ein Arzt notierte :"Aktive, engagierte und energische Menschen verwandeln sich in traumwandlerische Lebewesen. Sie liegen ständig auf ihrer Schlafstätte und schaffen es kaum, aufzustehen, um etwas zu essen oder auf die Toilette zu gehen. Sie sterben bei körperlichen Anstrengungen, wie der Suche nach Nahrung, manchmal sogar mit einem Stück Brot in der Hand." - Es gab nicht einmal Möglichkeiten, den ungezählten abgemagerten und elternlosen Kindern zu helfen, die im Ghetto lebten. Tote lagen auf den Straßen, überdeckt mit Zeitungspapier - so lange, bis sie in eines der Massengräber verfrachtet wurden.
Dem körperlichen Tod folgte der kulturelle: Die deutschen Besatzer raubten private und öffentliche jüdische Bibliotheken. Auch die reichen und mehrere Jahrhunderte alten jüdischen Archive Osteuropas wurden geraubt und zerstört. Als 1942 die Deportationen aus den Ghettos einsetzten, benutzte man zurückgebliebene Bücher und Manuskripte als Brennstoff.
Trotz dieser Umstände versuchten die Ghettobewohner einigermaßen "normal" zu leben. Schulunterricht war verboten; es gab ihn dennoch: Im Ghetto von Lodz bestanden allein 63 Schulen mit 22330 Schülern. Junge Menschen versuchten sich trotz allem zu bilden. So auch David Sierakowiak in Lodz. Am 25. März 1942 schrieb er in sein Tagebuch: "Ich fühle mich sehr krank. Ich lese, aber kann gar nicht richtig arbeiten, deshalb übe ich englische Vokabeln. Unter anderem lese ich Schopenhauer. Philosophie und Hunger, das ist eine Mischung!" Obwohl Deutsche hunderte Synagogen in Polen niedergebrannt hatten, setzten gläubige Juden ihr religiöses Leben im Ghetto fort. Das war meist verboten. Wenn die Gestapo oder die SS jüdische Gottesdienste entdeckte, folgten Verhöhnung und Mord: Wurden die Betenden nicht sofort erschossen, so schnitt man ihnen zum Beispiel die Bärte ab oder zwang sie, auf die Gebetbücher und Thorarollen zu urinieren. Auch andere kulturelle Aktivitäten, wie Musik, Kunst und Theater, entfalteten die Ghettoinsassen, um die "Moral" aufrechtzuerhalten, nämlich um als Mensch zu überleben. In Lodz beispielsweise bestand ein Puppentheater für Kinder und in Warschau ein Kinderchor. Es gab Konzerte und Theateraufführungen in den Ghettos - so lange, bis die Musiker und Schauspieler deportiert waren.
Historiker haben solche Aktivitäten als eine Form des Widerstandes bezeichnet. In den Ghettos gab es auch Menschen, die erkannten, wie wichtig es für die Zukunft wäre, alles, was geschieht aufzuzeichnen. Einige führten Tagebuch. Andere organisierten Gruppen, die systematisch Zeugenaussagen und Dokumente über das Leben im Ghetto, die deutsche Politik und deren Verbrechen im Einzelnen sammelten. Zu ihnen zählten Historiker wie Emmanuel Ringelblum, der Lehrer Chaim Kaplan in Warschau und der Jurist Abraham Tory in Kovno (Kaunas).
"Hörte, wie der Rabiner aus Wengrow an Jom Kippur (Versöhnungstag) getötet wurde, Ihm wurde befohlen die Straße zu reinigen. Dann wurde ihm befohlen, den Abfall aufzunehmen und in seine Pelzmütze zu stecken; als er sich nach vorn beugte, wurde er dreimal von einem Bajonett durchbohrt. Er setzte die Arbeit fort und starb arbeitend." (Aus Emmanuel Ringelblums Aufzeichnungen aus dem Warschauer Ghetto, 26. April 1941)
Deutschland beutete die Ghettobewohner als billige Sklaven aus. So spielten viele Ghettos in der deutschen Kriegswirtschaft eine wichtige Rolle: In den Ghettos in Warschau, Lodz, Bialystok und Sosnowiec war beinahe die ganze Produktion darauf ausgerichtet. Oft nutzten auch einzelne Deutsche die jüdische Arbeit, um sich selbst zu bereichern. Viele Opfer glaubten deshalb, dass Arbeit ihre einzige Chance zum Überleben wäre. Aber es zeigte sich stets früher oder später, dass der Wille der Nationalsozialisten, die Juden zu ermorden, noch wichtiger war, als Nutzen aus ihnen zu ziehen.
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