Über die Gründe von Sokrates Anklage gibt es bis heute zahlreiche Spekulationen. Aus den Schriften des Xenophon, in denen er die Lehren von Sokrates, sein Leben und seinen Charakter in Form einer Würdigung seiner Person auswertet, lässt sich aber manch Antwort entnehmen. Im ersten Teil will seine Schrift das Persönlichkeitsbild, das der Anklage und dem Todesurteil gegen Sokrates zugrunde liegt, öffentlich zurechtrücken. Wahrscheinlich möchte der um 393 v.Chr. aus Athen verbannte Xenophon auch eine gewisse Kritik an einigen Schwächen der attischen Staatlichkeit üben. Die ersten beiden Bücher setzten sich mit der Anklageschrift gegen Sokrates auseinander und es entsteht hierbei ein besseres Bild einer in Athen offenbar langjährigen Missstimmung und Gerüchtebildung gegen Sokrates als in anderen zeitgenössischen Schriften. Schon in den 20ern des 5.Jhr. v.Chr. kam Kritik an den Lehren des Sokrates auf, die angeblich wortverdrehend und nutzlos gewesen sein sollen. Hinzu kam dann 406 v.Chr. der Arginusen - Prozess, bei dem sich Sokrates unter Hinweis auf die Verfassung weigert, einen Beschluss der Volksversammlung als verfassungsmäßig und rechtsgültig anzuerkennen. Dadurch scheint er sich den Ruf eines "Verächters des Demos" zugezogen zu haben.
Man gewinnt den Eindruck, dass an Sokrates auf Grund seiner Popularität ein Exempel statuiert worden ist, mit dem die Kritik aus dem Volk an dem zeitweise unpopulären und tyrannischen Regime unterdrückt werden sollte.
In diesem Wahrnehmungsrahmen erschienen einige Aussagen von Sokrates als gerichtet gegen religiöse Auffassungen (wie zum Beispiel die innere Stimme "daimonion"), gegen einige politische Verfassungstraditionen sowie gegen einige grundlegende familiäre Konventionen(Sokrates äußerte Zweifel an Autoritätsanspruch der Eltern und an dem Nutzen verwandtschaftlicher Bindungen). Somit galten all seine Lehren als pure Kritik, die nur destruktive Auswirkungen auf das Bewusstsein der Zuhörer nach sich ziehen sollten.
In anderen geschichtlichen Quellen wird auch beschrieben, dass die Missstimmung gegen Sokrates durch einige Personen ausgelöst worden ist, die persönliche Kränkungen von Sokrates einstecken mussten und somit begannen, ihn in aller Öffentlichkeit anzugreifen.
Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass Sokrates Anklage zum einen auf persönlichen Motiven, aber auch auf politisch ideologischen Motiven beruht. Die langjährige gegen Sokrates gerichtete Missstimmung kam mit der Anklage erst zu ihrem Höhepunkt auf Grund der zugespitzten innenpolitischen Stimmungslage nach dem peloponnesischen Krieg.
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