Zu eben diesem Zeitpunkt, als in der Studentenschaft die traditionelle Sexualmoral brüchig wurde, setzte die empirische Jugend- und Studentensexualitätsforschung in der alten BRD ein. Eine der wohl wissenschaftlich repräsentativsten und bekanntesten Studien ist die von Hans Giese und Gunter Schmidt, die diese Untersuchung am Institut für Sexualforschung an der Universität Hamburg im Jahre 1966 durchführten.
Fragebögen wurden an insgesamt 6128 westdeutsche Studenten, davon 4626 an männliche und 1502 an weibliche, verschickt. Die Adressen der Befragten wurden dabei nach einem Zufallsverfahren zusammengestellt. Da die Rücksendequote bei etwa 59,8% lag, hatte man im Endeffekt die ausgefüllten Bögen von 2835 Männern und 831 Frauen vorliegen. Die Geschlechterverteilung der Stichproben entsprach genau den Verhältnissen in der Population aller Studenten. Was jedoch die Altersverteilung betraf, so waren die jüngeren Altersgruppen leicht unterrepräsentiert. Wohingegen verheiratete Studenten wiederum überrepräsentiert waren. Weiters war der Anteil der evangelischen Studenten im Vergleich zu den katholischen prozentuell höher. Diese Unterschiede in der Zusammensetzung der Stichprobe waren aber laut Giese & Schmidt nicht signifikant, da sie ohnehin nicht sehr groß waren.
Die Studie selber befaßte sich mit dem Thema, inwieweit das Sexualverhalten der Studierenden noch von traditionellen Standards und Normen bestimmt sei. Im Mittelpunkt des Interesses stand hier die voreheliche Sexualität. Giese & Schmidt konnten mit ihrer Studie globale Entwicklungstendenzen feststellen, nämlich eine neue Einstellung zu einer liberaleren Bewertung von vorehelichen sowie außerehelichen sexuellen Beziehungen, Homosexualität und verschiedenen Formen von sexueller Betätigung, wie Petting oder Masturbation.
Was die voreheliche Sexualität betrifft, so sprachen sich rund 90% aller Studierenden für "zuverlässig" oder "bedingt zuverlässig" aus. Nur eine Minderheit forderte voreheliche Keuschheit. Auch hinsichtlich des außerehelichen Geschlechtsverkehrs und der Homosexualität ließen sich überwiegend liberalere Einstellungen erkennen. (siehe Tabellen 3.2.1.a. und 3.2.1.b.) Während in etwa drei Fünftel aller Studierenden außerehelichen Geschlechtsverkehr als verwerflich bezeichnen, wird eben dieser von immerhin schon rund 40% als "zulässig" oder "bedingt zulässig" bezeichnet. Was die Homosexualität betrifft, so beurteilen diese schon drei Viertel aller männlichen und weiblichen Studenten als (bedingt) zulässig.
Außerehelicher GV Frauen Männer Frauen
zulässig 7% 9%
bedingt zulässig 28% 29%
unzulässig 63% 61%
keine Angabe 2% 2%
außerehelicher GV Männer Männer Frauen
zulässig 9% 11%
bedingt zulässig 33% 32%
unzulässig 56% 55%
keine Angabe 2% 2%
Tabelle 3.2.1.a. Einstellung zum außerehelichen Geschlechtsverkehr (GV) im Jahr 1966 (Clement, 118)
Homosexueller Kontakt Männer Frauen
zulässig 35% 38%
bedingt zulässig 40% 37%
unzulässig 21% 20%
keine Angabe 4% 5%
Tabelle 3.2.1.b. Einstellung zur Homosexualität im Jahr 1966 (Clement, 118)
Diese Zahlen waren sehr wohl Indizien dafür, daß sich die Studierenden in ihren sexuellen Standards erheblich von den institutionellen Sexualnormen entfernt hatten. Die reproduktive Sexualideologie hielt der fortschreitenden Entwicklung nicht mehr länger stand. Die Begrenzung der Sexualität auf die Ehe, die nur in der Fortpflanzungsfunktion ihren Sinn hatte, war nicht mehr gegeben.
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