Überall in der Natur herrscht Turbulenz: in Luftströmungen, in rasch fließenden Flüssen beim Umspülen von Felsen oder Brückenpfeilern, in der glutflüssigen Lava, die sich von einem Vulkan herabwälzt, oder in Wetterkatastrophen wie Taifungen und Flutwellen. Öl will nicht rasch genug durch die Pipeline flißen; Pumpen und Turbinen oder auch Lastwagen auf der Autobahn beginnen zu rütteln, Kaffeetassen im Flugzeug schwapen über. Turbulenz im Blut kann Adern beschädigen, indem sie zur Ablagerung von Fettsäuren auf den Gefäßwänden führt.
Die Turbulenz hat schon früher die großen Denker fasziniert. Einer der ersten war Leonardo da Vinci, der viele Studien anstellte und geradezu von der Idee besessen war, daß eines Tages eine große Sintflut die Erde verschlingen müßte. Im 19. Jahrhundert erregte die Turbulenz die Aufmerksamkeit von Physikern wie von Helmholtz, Lord Kelvin, Lord Raleigh und eine ganze Schar weniger bekannter Wissenschafter, die wesentliche experimentelle Beiträge lieferten. Trotzdem blieb sie ein vernachlässigtes Forschungsgebiet, das Gebiet blieb für die Forschung ziemlich undurchsichtig.
Der Grund für das jüngste Interesse an Systemen mit so vielen Freiheitsgraden und so unermeßlich komplexer Dynamik liegt teilweise in der Fülle neuer raffinierter Untersuchungsmethoden, die es ermöglichen, mitten in turbulente Ereignisse hineinzugehen und dort Daten über die Vorgänge zu gewinnen. Die Entwicklung der superschnellen Computer erlaubt es den Forschern, die überquellende Vielfalt der Ergebnisse jener nichtlinearen Gleichungen graphisch darzustellen, die man benützt, um Turbulenz mathematisch zu verfolgen. Trotzdem lassen sich die Gesetze der Turbulenz nur allmählich erschlißen. Die meisten Fotschritte betreffen noch immer nur die ersten Schritte auf dem Weg zu Turbulenz.
Ein großer Stein legt sich dem Bach in den Weg, aber dieser teilt sich einfach und umfließt das Hindernis glatt und geschmeidig. Fügt man dem Wasser Farbteilchen hinzu, so lassen sie Strömungslinien sichtbar werden, die sich um den Stein herumlegen und sich nicht weit voneinander entfernen oder in irgendeiner Weise durcheinander geraten.
Mit Regen strömt der Fluß ein wenig schneller dahin. Nun bilden sich hinter dem Stein Wirbel (Grenzzyklen). Diese sind recht stabil und neigen dazu, sich lange Zeit hindurch an der gleichen Stelle zu halten.
Mit wachsender Srömungsgeschwindigkeit lösen sich Wirbel ab und treiben den Bach hinunter, wobei sie den störenden Einfluß des Steins weit die Strömung hinab tragen. Im Sommer hätte eine bachabwärts vorgenommene Messung der Fließgeschwindigkeit ein recht gleichmäßiges, fast konstantes Ergebnis erbracht. Nun aber schwankt die Fließgeschwindigkeit periodisch aufgrund der mittransportierten Wirbel.
Nimmt die Strömungsgeschwindigkeit noch weiter zu, so kann man beobachten, wie die Wirbel ausfransen und scheinbar zusammenhanglose Bereiche wallenden, strudelnden Wassers erzeugen. Zusätzlich zu den periodischen Schwankungen des Flusses kommen nun viel schnellere, unregelmäßige Änderungen: die ersten Vorstufen der Turbulenz.
Wenn schließlich das Wasser mit höchster Geschwindigkeit fließt, so scheint das Gebiet aller Ordnung enthoben zu sein und Messungen der Strömungsgeschwindigkeit liefern dort chaotische Ergebnisse. Echte Turbulenz hat eingesetzt, und die Bewegung jedes winzigen Wasserteilchens scheint völlig zufällig geworden zu sein. Das Gebiet hat nun so viele Freiheitsgrade, daß alles Vermögen der heutigen Wissenschaft nicht ausreicht, um es zu beschreiben.
Im Verlauf der Entstehung von Turbulenzen kommt es anscheinend zu unendlich vielen Teilungen und immer weiteren Unterteilungen oder Verzweigungen auf immer kleinerer Skala. Gibt es für ihre Anzahl eine Grenze? Eine Flüssigkeit besteht ja schließlich aus Molekülen. Ist es denkbar, daß wahre Turbulenz bis ganz hinunter auf das molekulare Niveau anhält - oder gar darüber hinaus?
Es liegt nahe, sich vorzustellen, daß Systeme am Rande der Turbulenz sich auf immer kleineren Skalen selbst ähnlich bleiben.Attraktoren
Kleine und kleinste Ursachen beziehungsweise Unterschiede bei den Anfangsbedingungen in rückgekoppelten Systemen erzeugen größte Wirkungen und unvorhersehbare Abweichungen. Auf die Frage: "Wie stabil ist unser Sonnensystem?" gab es grundsätzlich keine Antwort. Erst mit Hilfe des Computers und dessen riesigen Kapazitäten zur Datenverarbeitung gelang es, die für de Verlauf der drei unterschiedlichenHimmelskörperbahnen notwendigen Differentialgleichungen zu berechnen. Die Ergebnisse zeigten, daß chaotisches Verhalten dennoch differenziert geordneten Mustern folgt, die man auch Attraktoren nennt.
Diese Attraktoren beschreiben die Systemzusände, auf die sich das Gesamtsystem einschwingt. In der dynamischen Systemforschung gibt es im wesentlichen vier Attraktoren: den Fixpunkt, den Grenzzyklus, den Torus und den seltsamen (chaotischen) Attraktor.
Der Lorenz-Attraktor veranschaulicht, warum schon mittelfristige Wettervorhersagen unmöglich sind: Innerhalb der "Wolke der Ungewissheit" verliert sich der vorhersagbare Verlauf des Wetters nach kurzer Zeit - es liegt dann buchstäblich irgendwo auf dem Attraktor. Insgesamt allerdings entwickelt sich das Wetter somit niemals rein zufällig, sondern folgt wie andere chaotische Systeme dem Prinzip "lokal unvorhersagbar, global stabil".
Könnte man alle Anfangsbedingungen exakt bestimen, wäre auch - zumindes rein theoretisch - deterministisches Chaos bei Kenntnis seiner verhaltensbestimmenden Attraktoren vorhersagbar. Praktisch scheint das allerdings unmöglich, da aufgrund der physikalisch unaufhebbaren Unschärfen und Meßprobleme die anfänglichen Systemzustände niemals alle genau gemessen, berechnet oder wiederhergestellt werden können.
Die Chaostheorie hat vor allem im Rahmen der Attraktorenforschung demonstriert, daß sich im vermeintlichen Chaos und unvorhersagbarem Systemverhalten dennoch eine ganze Menge geordneter Strukturen erkennen lassen.
Dies gilt vor allem für die Entdeckung sogenannter Bifurkationen (Lat. Bi: zwei, furca: Gabel). Dabei handelt es sich um eine Art Gabelung oder Verzweigung in einem System, das sich an entsprechenden Bifurkationsstellen zwischen zwei oder auch mehreren Wegen entscheiden muß.
Der Chaosforscher Otto E. Rössler gelang es nachzuweisen, daß die Tropfen eines Wasserhahns nicht beliebig, sondern - vereinfacht ausgedrückt - geordnet fallen: zunächst zwei Tropfen, dann vier, acht 16 usw. Diese Regelmäßigkeit nennen Chaosmathematiker Periodenverdoppelung.
Dem amerikanischen Mathematiker Mitchell Feigenbaum und dem deutschen Physiker Siegfried Grossmann gelang mit dem sogenannten Feigenbaum-Szenario schließlich der Nahcweis, daß solche Bifurkationen und Periodenverdoppelungen von universeller Gültigkeit sind - unabhängig davon, ob es sich beispielsweise um turbulente Flüssigkeiten, strömende Gase, akustisches Rauschen oder biologische Prozesse wie das Bevölkerungswachstum im jeweiligen ökologischen Rahmen handelt. Al geradezu sensationell empfinden viele Chaosforscher die Tatsache, wonach Bifurkationen so regelmäßig verlaufen, daß sie, ebenso wie die Ludolphsche Zahl Pi durch eine Universalkonstante bestimmt werden können: der sogenannten Feigenbaumschen Zahl δ = 4,669201. Dies ist eine universell gültige Konstante, der alle sprunghaften Übergänge in der Natur folgen.
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