Die moderne Biologie lehrt uns, daß lebende Systeme ihre Außenwelt nicht wahrnehmen können. Der menschliche Kognitionsapparat, die Kopplung von unseren Sinnesorganen mit dem ZNS und dem Gehirn, gaukeln uns nur ein selbsgemachtes Bild der Außenwelt vor. Diese Bilder konstruieren sie zwar aus Reizen der tatsächlichen Außenwelt, aber ausschließlich nach internen Regeln.
Die chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco J. Varela gehen sogar noch weiter: Eine Voraussetzung für Leben ist die Nichtwahrnehmung der wirklichen Außenwelt. Damit einem System das Prädikat lebendes System zugewiesen werden kann, muß es die Fähigkeit haben, Reize aus der wirklichen Außenwelt (sog. Pertubationen) intern so zu kombinieren und zu reduzieren, das eine stark vereinfachte Außenwelt mit wesentlich geringerer Komplexität intern produziert und vorgekaukelt werden kann. Dadurch grenzt es sich von \"direkten\" Einflüssen der Umwelt ab. Verliert ein System die Fähigkeit, eine Außenwelt zu fingieren, wird es an Reizüberflutung sterben. Es kann die lebensnotwendige System/Umwelt-Grenze dann nicht mehr aufrechterhalten. In den Biologie werden lebende Systeme daher als offene, selbstreferentielle Systeme mit geschlossener Organisation beschrieben, kurz autopoietische Systeme (gr.: autopoiese = \"selbstmachen\").
Ihre Umweltgrenze muß offen sein für den Fluß von Reizen (z. B. importieren und exportieren von überlebenswichtiger Energie, Materie), sie ist aber nicht permeabel für die Interpretationen von Reizen. Reizinterpretationen werden ausschließlich intern erstellt, also vom System selbst mit \"Bedeutung\" (hier im biologischen Sinne) belegt. Die innere \"Geschlossenheit\" ist genau wie die \"Offenheit\" durch Nahrung- und Reizaufnahme unbedingte Vorraussetzung zum Überleben. Diese erst befähigt sie, die Komponenten und Bestandteile, aus denen sie bestehen, in sinnvoller Weise selbst zu produzieren und zu reproduzieren. Ihr Leben und Überleben ist deswegen nicht kausal im Durchgriff von Außen bestimmbar. Vom Standpunkt der Biologie aus gilt also für das Individuum: Es muß in einem Cyberspace leben, um überhaupt leben zu können. Es lebt in einem Cyberspace, weil es lebt.
Wie sieht das mit der Gesellschaft aus? Die Summe der lebensnotwendigen Cyberspaces der Individuen gibt ja noch lange keinen gemeinsamen Cyberspace für die Gesellschaft. Darauf antwortet Niklas Luhmann: Die Gesellschaft lebt in einer Innenwelt, zu der es eine Außenwelt gar nicht gibt. Zu diesem Standpunkt kommt man, wenn man im Luhmannschen Sinne das Gesellschaftssytem als ein geschlossenes Kommunikationssystem beschreibt. »Die Gesellschaft besteht nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen«. Relevant für die Gesellschaft ist nur das, was »Anlaß gibt zu einer verständlichen Kommunikation«. Für Luhmann geschieht die gesellschaftliche Selbserzeugung im Zuge der Reproduktion von Kommunikation aus Kommunikation.
Das biologische Autopoiesis-Konzept wurde von Luhmann direkt auf die Gesellschaft übertragen. Der zentrale Unterschied zur Biologie besteht aber in der Besonderheit der System/Umwelt Grenze: Es gibt keine tatsächliche Außenwelt im oben beschriebenen Sinne. Die Grenze der Gesellschaft ist die Grenze der Kommunikation. Jenseits der Grenze gibt es weder Gesellschaft noch Kommunikation. Die Grenze kann daher nicht permeabel, nicht offen sein im Sinne der biologischen Autopoiesis. Es können keine Reize von außen hereindringen, Kommunikation kann nicht über die Grenze der Gesellschaft stattfinden. Da Reize von der Außenwelt aber lebensnotwendig für autopoietische Systeme sind, muß es sie aber geben. Deswegen stammen auch die angeblichen Außenweltreize der Gesellschaft eigentlich schon von Innen. Sie werden nur so \"präsentiert\", als ob sie von außen stammen würden. Ist dies gelungen, werden sie auf übliche Weise intern komplexitätsreduziert und mit Bedeutung und Sinn belegt. Sie bestimmen dann die gesellschaftliche Entwicklung genauso, als ob sie von einem \"wirklichen\" Außen stammen würden.
Für die Gesellschaft ist es überlebenswichtig, daß sie Handwerkszeug besitzt, um die geschlossene Kommunikation als offene Kommunikation, als Kommunikation über die Grenze der Gesellschaft hinweg, erscheinen zu lassen. Autopoietische Systeme brauchen unbedingt Geschlossenheit und Offenheit, um existieren zu können. Diese Aufgabe wird in modernen, ausdifferenzierten Gesellschaften von speziellen Teilsystemen übernommen, die sozusagen an die Grenze der Gesellschaft \"verwalten\". Solche Systeme repräsentieren in ihrem konstitutiven Aufbau vermutete Bereiche jenseits der Gesellschaft und sind zugleich institutionelle Bereiche innerhalb von ihr. Dies war die klassische Aufgabe der Religion, die in der Moderne mehr und mehr von der Wissenschaft übernommen wurde.
Nach Luhmann ist also das Kommunikationssytem Gesellschaft ein perfekt konstruierter Cyberspace (das sagt er natürlich nicht). Der perfekt konstruierte Cyberspace hat den Nachteil, daß man keine Möglichkeit mehr hat, festzustellen, ob man drin ist. Alle seine Illusionen sind perfekt. Mit dem Computer könnte diese kulturell längst vollzogene Entwicklung also lediglich nachgeahmt werden.
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