Um dieses Wunder verstehen zu können, muss man zum einen über die Notlage der Bevölkerung zu dieser Zeit Bescheid wissen, die unter dem Druck der Alemannen auf Severins Rat aus Rätien (Künzing und Passau) donauabwärts nach Lauriacum geflohen war. Diese Stadt mit ihrem ummauerten Lager und den befestigten Toren diente damals als eine Art Auffanglager, ehe sich die Romanen noch weiter östlich nach Favianis zurückdrängen lassen mussten. Die wirtschaftliche Versorgung war damals mangelhaft und die Handelsbeziehungen in Richtung Süden (Italien) ließen sich nur unter den schwierigsten Bedingungen aufrechterhalten. Dem Organisationstalent Severin schien dies jedoch gelungen zu sein, wie die von Eugippius beschriebene Verteilung von nahrhaftem Olivenöl unter die Bewohner Lauriacums zeigt. Diese Tat kam für die Zeitgenossen Severins einem Wunder gleich.
Zum anderen ist die Beschreibung dieses Ereignisses ein typisches Beispiel von Heiligengeschichtsschreibung (Hagiographie), insbesonders jedoch dafür, wie Eugippius und seine Hintermänner für die mündliche Überlieferung den verehrten Severin zum mit Wunderkraft ausgestatteten Heiligen hochstilisierten. Diese Szene vergleicht er mit einer Segensspendung aber vor allem mit dem alttestamentlichen Ölwunder des Propheten Elisäus bei der Witwe von Sarepta und dem neutestamentlichen Weinwunder Christi in Kana. Auch Severin bewirkte angeblich eine wunderbare Ölvermehrung, die jedoch plötzlich endete, als einer der Zuschauer das magische Schweigen der Anwesenden brach, indem er lautstark seiner Verwunderung Ausdruck verlieh. Mit diesem Darstellungs-element des magischen Bannes begründete der Autor die Tatsache, dass die an sich schon bewundernswerte Ölbeschaffung trotz verantwortungsbewusster Rationierung eben doch nicht für den Bedarf aller Bürger ausgereicht hat.
Man erfährt in der Vita auch, dass zahlreiche Nahrungsmittel von Rätien aus über den Inn nach Noricum verschifft wurden (Kapitel 3, 3). Durch die Wirren der Völkerwanderung waren die Lebensmittellieferungen aus Italien nicht mehr gewährleistet (28, 2). Auch Kleidung war teilweise nur noch schwer zu bekommen (Bärenwunder Kapitel 29, 1).
Die Glaubwürdigkeit der Vita ist anzunehmen, obwohl Eugippius eben kein Historiker im eigentlichen Sinne war. Einerseits war er zwar den arianischen Rugiern als Berater freundlich gesinnt, andererseits meldete er Germaneneinfälle beim Klerus.
1.) Der wichtigste Aspekt, der sich durch die gesamte Vita wie ein roter Faden zieht, ist Noricum und der Alpen - Donau - Raum selbst, und zwar zur Zeit des Wirkens des Heiligen Severins zwischen 453 - dem ersten Auftreten des Heiligen in Asturis - und 482 - der Räumung Ufernoricums. Der Name Noricums selbst stammt vom norischen Königreich Regnum Noricum, das gegen Ende des 2. Jahrhunderts vor Christus von sesshaften Kelten unter Führung der Noricer gebildet worden war. Eine wichtige Rolle im Handel spielte die im Süden liegende Stadt Aquilea. Formal bestand mit ihren ,,Nachbarn\", den Römern, eine Bundesgenossenschaft, was aber einem Protektorat näher kam.
Die Probleme und die Untergangsstimmung der norischen Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt, nach dem Tode Attilas 453 n. Chr., kommen im Comemmoratorium zum Ausdruck. Doch in dieser Zeit des allgemeinen Umbruches und des drohenden Endes Noricums (und somit in der Folge Westroms) taucht Severin auf. In einer Zeit, in der die Bevölkerung unter starkem germanischen Druck steht - aufgrund der zahlreichen Übergriffe, der Plünderungen (Kapitel 24) , Tributforderungen, der Verschleppung von Menschen (Kapitel 4, 2 - 5, 8, 3 - 6) und schließlich der Besetzung des gesamten Bereiches an der Donau - und es keine staatlichen römischen Reichsfunktionäre oder Beamten mehr gibt, wird es für die Bischöfe und presbyteri zur Aufgabe, sich an die verschreckte Bevölkerung zu wenden. Gelegentlich finden sich Soldaten, die aber sind jämmerliche Gestalten, die schon seit Jahren keinen Sold mehr gesehen haben und den Mut zum energischen Handeln längst verloren haben. Da tritt nun Severin als wahrer Retter in der Not auf, rät, hilft und wirkt Wunder, fordert zum Fasten, Opfern und Beten auf, organisiert überregionale Hilfsaktionen bei Naturkatastrophen (z. B. das Abwenden einer Heu-schreckenplage in Cucullis; Vita - Kapitel 12) und vermag wichtige Ereignisse vorauszusagen (Kapitel 7; 17; 21). Noch dazu hat er einen großen Einfluss auf die Germanen, die Rugier (Kapitel 5; 8; 31) jenseits der Donau und die Alemannen (Kapitel 27) im Westen. Durch sein sicheres Auftreten, sein umfassendes Wissen und sein diplomatisches Geschick erwirbt er sich sowohl bei der romanischen, als auch bei der germanischen Bevölkerung großen Respekt und Achtung. Bald wird er als gleichwertiger Verhandlungspartner akzeptiert, obwohl keine Macht hinter ihm steht, außer der eigenen Ausstrahlung und der Überzeugungskraft seiner überragenden Persönlichkeit. Er hat ein gutes Gespür für historische Zusammenhänge, plant voraus und kann sich noch dazu auf ein gutes Nachrichtensystem verlassen, wodurch er Aktionen der Germanen voraussehen und seine Mitbürger rechtzeitig warnen kann.
Dennoch konnte Severin den endgültigen Verfall Noricums nicht mehr verhindern: Langsam, aber doch, kam es zum völligen Eindringen der Germanen, da die Gelder für Sold und Befestigungen schon lange fehlten. Wie sehr die Donaustädte unter den Germaneneinfällen litten, zeigt sich in einer Großzahl der Kapitel der Vita (z.B. Vita - Kapitel 4,1). Die Kultur verwilderte immer mehr, das "Straßennetz" verfiel, die Bevölkerung verarmte immer mehr, und es endete damit, dass nach Severins Tod am 8. Januar 482 n. Chr. (Kapitel 43, 9) Odoaker die Räumung Ufernoricums anordnete, der die Aufgabe Binnennoricums 610 n. Chr. bei der Schlacht von Aguntum folgte.
2.) Der zweite wichtige Aspekt, der sich dem Leser der Vita des Eugippius erschließt, ist das damalige Christentum in Noricum. In Zeiten, in denen solche Krisen vorherrschten, wurden Diesseitsreligionen immer unbedeutender, der Einfluss von orientalischen Religionen (durch orientalische Kaufleute verbreitet) nahmen, (bei den Soldaten vor allem der Mithras- und der Jupiter Dolichenus- Kult) in Noricum zu. Hierbei kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Christentum und Mithraskult, da beide Religionen sich sehr ähnelten. Ein anderes Problem war die Intoleranz der Römer gegenüber den Christen, obwohl bereits im 3. Jahrhundert eine stattliche Anzahl an Christen in Noricum lebte. Durch das Mailänder Toleranzedikt und des Ediktes von Kaiser Konstantin begann eine vermehrte Missionstätigkeit, die im 4. Jahrhundert, abgesehen von kleinen heidnischen Opferdiensten (z. B. in Cucullum; Kapitel 11), abgeschlossen war. Nach diesem ,,Sieg\" über das Heidentum, kamen aber immer mehr christliche Sekten auf, mit denen sich auch Severin zum Teil ,,herumplagen\" musste. Die Gattin des Rugierkönigs Feletheus (mit dem Severin in Verhandlungen stand), genannt Giso, wird von Eugippius sehr negativ beschrieben, da sie Arianerin war (Kapitel 8). Der Arianismus, die größte christliche Sekte, führte das Christentum beinahe zur Spaltung. Dieser Glauben alexandrinischer Herkunft besagt, dass Christus ein Geschöpf Gottes, aber nicht Gott selbst sein kann, was in krassem Gegensatz zur Heiligen Dreifaltigkeit steht. Durch die Bischofsweihe Wulfilas durch einen Arianer, traten fast alle Germanen auf arianische Seite. Erst als sich Chlodwig zum Katholiken taufen lässt, verschwindet der große Einfluss des Arianismus in Noricum.
3.) Die Vita gewährt schlussendlich auch einen guten Einblick in die damalige Hierarchie des Klerus: Man sah eine Trennung zwischen Priestern und Laien vor. Nach intensiverer Beschäftigung mit dem Comemmoratoriums sind folgende Abstufungen ersichtlich: Ostiarier (Türhüter) - Lektor (Vorleser) - Exorcist (Teufelsbanner) - Akoluth (Begleiter zum Altar) - Subdiakon - Diakon und schließlich Presbyter. Damals stellte das Amt eines Bischofs (noch) keinen Weihegrad dar, Mönchsgemeinschaften bestanden zumeist aus Laien, wobei ein Presbyter oder ein Abt den Vorstand innehatte. Wichtig war zu dieser Zeit auch noch die Einteilung in die basilica (Klosterkirche) und in die ecclesia (Gemeindekirche).
Alles in allem kann man sagen, dass Eugippius mit seiner Vita Sancti Severini den Untergang des Römischen Reiches und den Übergang der Antike zum Mittelalter mit all seinen Begleiterscheinungen und Problemen für die damalige Bevölkerung aufzeigt. Gleichzeitig zeigt uns Severin, wie wichtig es ist, nicht nur damals, sondern umso mehr in der heutigen Zeit, sich für die Menschenrechte, die Unterdrückten und Armen einzusetzen, wobei die Grundhaltung bei politischen Entscheidungen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen die des Verhandelns, der Verständigung, der Gewaltlosigkeit und der Versöhnungsbereitschaft ist.
Zeittafel:
15 vor Christus Unterwerfung des Alpenvorlandes durch die Römer
Ab 90 nach Christus Errichtung des Obergermanischen und Rätischen Limes
Um 150 - um 310 Erste germanische Völkerwanderung
179 Gründung von Castra Regina
212 Die freien Bewohner des ganzen Imperium Romanum erhalten das Bürgerrecht.
Mitte 3. Jahrhundert Krise des römischen Reiches; Germaneneinfälle
293 Reichsreform des Kaisers Diokletian: Doppelprinzipat
330 Konstantinopel wird Reichshauptstadt
Um 360 Übersetzung der Bibel ins Gotische
375 Beginn der germanischen Völkerwanderung
391 Das Christentum wird zur Staatsreligion erhoben
395 Teilung des Reiches in Ost- und Westhälfte
410 Plünderung Roms durch die Westgoten
453 Tod Attilas
455 Plünderung Roms durch die Wandalen
476 Odoaker stürzt Romulus Augustulus, Ende des Weströmischen Reiches
482 8. Jänner: Tod Severins
488 Umsiedlung der Romanen aus Noricum nach Italien
Parallelen zu anderen Legenden:
Besonders häufig liest man von Offenbarungen, Vorahnungen und Wunderheilungen des Heiligen. Die meisten der Vorrausagungen beziehen sich auf politische Ereignisse. Man erfährt von Wunderheilungen, die nach dem Vorbild des Jesus von Nazareth gestaltet sind. Darüber hinaus liest man auch von Vermehrungswundern, die eben an die Hochzeit zu Kana beziehungsweise an die Speisung der Vierzigtausend erinnern. Ebenfalls verwendete er das Symbol der Heuschreckenplage, die schon im alten Testament vorkommt.
Vita Sancti Severini 12
In anderen Wundern wie bei der Totenerweckung und den Kerzenwundern, finden sich auch Parallelen mit anderen Heiligen-Viten. Eugippius berichtet also nicht nur von Wundertaten des Severin, sondern er greift Themen auf, die ein fester Bestandteil in solchen Legenden sind. Er lässt den historischen Kern zurücktreten. Viel wichtiger ist ihm die Ausgestaltung des Geschehens nach dem Vorbild der Bibel und der Hagiographie.
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