Der Neandertaler war uns viel ähnlicher, als die Forscher früher dachten. Inzwischen beweisen über 70 Fundstellen in Europa und Asien: Der bis zu 1,75 Meter große Steinzeit-Arnold konnte sprechen und komplizierte Werkzeuge herstellen. Er sorgte für kranke oder verletzte Sippenmitglieder. Und er begrub seine Toten in sorgfältig angelegten Gräbern. Mit dem "homo sapiens", unserem Vorfahren, lebte der Neandertaler Jahrtausende Seite an Seite - und war keineswegs unterlegen. Warum er vor rund 25.000 Jahren ausstarb können wir nur vermuten.
Neandertaler - Kampf ums Dasein
Abenteuerlich war das Neandertaler-Leben mit Sicherheit - und gefährlich. Vor allem die Jagd auf Auerochsen, Wollnashörner oder Mammuts war extrem risikoreich: Um ihre Beute mit dem Speer erlegen zu können, mussten sich die Jäger nahe heran pirschen. Und ein in die Enge getriebenes Mammut verstand garantiert keinen Spaß. Forscher fanden eingedellte Schädel, gebrochene Arm- und Beinknochen sowie zertrümmerte Rippen. Dazu mussten sich die Neandertaler mit Zeitgenossen wie Höhlenbären, Höhlenlöwen, Wölfen oder Hyänen herumschlagen. Die enormen körperlichen Belastungen führten häufig zu Gelenkerkrankungen und Knochenbrüchen. Und die vielen Zahnkrankheiten lassen vermuten: Die meisten Neandertaler haben als Kind regelmäßig gehungert. Die Lebenserwartung war deshalb sehr niedrig: Männer wurden im Durchschnitt 25 bis 30 Jahre alt, nur wenige schafften es über die 40. Frauen starben wegen der gefährlichen Geburten meist noch früher.
Der Einzelne war wichtig
Immerhin: Wer krank oder verletzt war und selbst nicht mehr jagen konnte, wurde von der übrigen Sippe mit versorgt. In einer Höhle im Irak fanden sich zwei Skelette: Das eine wies eine schlecht verheilte Schädelfraktur auf, das andere gebrochene Rippen. Beide Verletzte hatten also überlebt - bis ein Erdbeben die Höhle zum Einsturz brachte. Dass der Einzelne etwas zählte, zeigen auch die freigelegten Gräber: Im französischen Le Moustier wurde ein Kind mit einem wertvollen Steinbeil in der Hand entdeckt, umgeben von Feuersteinen und Fleischbrocken von Wildrindern. In ein Familiengrab im heutigen Irak waren Blumen gelegt worden. Daneben gibt es aber auch Funde der unangenehmeren Art: Einige Tote waren offenbar verspeist worden - vermutlich aus kultischen Gründen.
Neandertaler - Kunstfertigkeit und Ende
Die Neandertaler hausten gerne in Höhlen - sofern sie welche vorfanden. In der baumlosen Tundra bauten sie Hütten aus Mammut- oder Wollnashornknochen und Fellen. Manchmal benutzten sie solche Lager mehrere Monate, bevor sie auf der Suche nach Nahrung weiterzogen. Überhaupt waren die Neandertaler äußerst geschickte Handwerker. Mehr als 60 unterschiedliche Steinwerkzeuge sind bekannt: unter anderem Messer, Schaber und Hämmer. Damit konnten Felle abgezogen und bearbeitet, Fleisch zerschnitten oder Knochen zertrümmert werden. Ganz Findige versahen Holzspeere mit messerscharfen Steinspitzen. Musikalisch waren die Neandertaler auch, wie das in Slowenien gefundene Teilstück einer Flöte beweist: In einen Bärenknochen hatte der Künstler eine Reihe von Löchern gebohrt - in genau den Abständen, um eine perfekte Tonleiter spielen zu können.
Warum starb der Neandertaler aus?
Vor 40.000 Jahren erreichte der aus Afrika stammende "homo sapiens" Europa: Der Neandertaler bekam Konkurrenz. Haben sich die beiden heftig bekämpft? Dafür gibt es bis jetzt keine Anzeichen. Haben sie sich vertragen oder sogar vermischt? Wir können es nur vermuten. Jedenfalls lebten Neandertaler und "homo sapiens" lange Zeit Seite an Seite. Doch warum wurde der Neandertaler vor ungefähr 25.000 Jahren vom "homo sapiens" verdrängt und starb aus? Vielleicht konnte er weniger vorausplanen und hatte deshalb mehr Verluste bei Nahrungsknappheit. Vielleicht kam er mit seinem energiefressenden Körper schlechter durch Hungerzeiten. Vielleicht war er auch einfach anfälliger für Krankheiten. Wahrscheinlich spielten alle diese Gründe eine Rolle - und noch andere mehr. Wissenschaftler haben errechnet: Schon eine um zwei Prozent höhere Sterberate des Neandertalers hätte innerhalb weniger tausend Jahre ganz unspektakulär zu seinem Aussterben geführt.
Neandertaler - Muskeln plus Hirn
Der Neandertaler war der erste echte Europäer. Hier entwickelte er sich vor 300.000 bis 200.000 Jahren aus dem "homo erectus". Ganz heimattreu blieb er allerdings nicht: Auch im Nahen Osten und sogar in Usbekistan fanden Forscher seine Spuren.
Den Namen hat er vom Neandertal bei Düsseldorf: Steinbrucharbeiter fanden dort 1856 ein Schädeldach und einige Knochen - ohne eine Ahnung zu haben, was sie da ausgegraben hatten. Auch Fachleute waren zunächst ratlos: Einige Ärzte glaubten, dass eine Knochenkrankheit schuld an den merkwürdig großen Augenwülsten sei. Erst Jahre später erkannten die Wissenschaftler, dass es sich um eine noch unbekannte Menschenart handelte. Nach dem Fundort wurde sie "homo neanderthalensis" genannt. Heute graben Archäologen wieder dort: Sie haben Teile des Gesichtsschädels und weitere Knochen genau dieses "ersten" Neandertalers gefunden.
Überlebenskünstler in harter Zeit
Das Europa des Neandertalers war bitterkalt: Es herrschte Eiszeit. Baumlose Tundra weit und breit. Das Jagdwild musste sich der Neandertaler mit Konkurrenten wie Wolf oder Höhlenlöwe teilen. Aber: Er war an diesen feindlichen Lebensraum hervorragend angepasst. Kurze, gedrungene Gliedmaßen hielten die Hautoberfläche gering und ließen so wenig Wärme aus dem Körper. Mächtige Muskelpakete - 30 bis 40 Prozent mehr Muskelmasse als bei uns - machten ihn stark wie Herkules. Massive Knochen und robuste Kniegelenke ließen ihn weite Sprünge problemlos abfedern. Diese Kraft kostete viel Energie. Um die zu bekommen, aß der Neandertaler fast ausschließlich Fleisch - oft noch roh. Das prägte sein Aussehen: Kräftige Kiefer und ein vorspringendes Mittelgesicht ermöglichten optimales Kauen. Weitere Folge dieser Ernährung: Der Neandertaler hatte ein überdimensionales Gehirn - fast größer als unseres.
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