Kommen heute Touristen nach Tibet, so erreichen sie das Land mit einem Flugzeug, und sie werden mit dem Auto in ein bequemes Hotel inmitten von Lhasa gefahren. Nur die wenigsten können sich vorstellen, wie es früher war - ohne Straßen, ohne Autos - als die Lasten noch auf schmalen Saumpfaden transportiert wurden. Ob es der Bevölkerung damals besser ging als heute, kann ich nicht beurteilen, glücklicher war sie auf jeden Fall, denn heute beherrschen die Chinesen das Land, und die Tibeter werden von den Militärs unterdrückt.
Sicherlich war das Leben früher auch nicht einfach. Die soziale Ordnung ließ sich als hierarchisch gegliederte Nomaden- und Bauerngesellschaft mit theokratisch-feudalistischen Strukturen umschreiben. Zweifellos war dieses System reformbedürftig, denn eine kleine Minderheit herrschte über die Mehrheit. Klerus und Adel regierten das Land - Korruption war alltäglich. Dessen war sich der 14. Dalai Lama, Tenzin Gyatso, jedoch immer bewußt, und bereits in seinen Jugendjahren arbeitete er Pläne aus, wie man das System reformieren könnte. Dann kamen ihm jedoch leider die Chinesen zuvor, die seither mit skrupellosen, kolonialistischen Methoden das Land ausbeuten.
Nicht nur Adelige und Großgrundbesitzer waren im alten Tibet mächtig, auch religiöse Institutionen beherrschten dieses Land. Immer wieder mußten sie ihre Macht unter Beweis stellen, vor allem widersetzten sie sich jeglichem Fortschritt und ausländischen Machteinfluß.
"In Lhasa (gab es) einen britischen Lehrer, der seinen Schülern das Fußballspielen beibrachte. Eines Tages kam während des Spiels ein Gewitter auf, und die Äbte sagten, die Götter seien zornig."
Dieses Beispiel verdeutlicht, daß der Aberglaube in Tibet weit verbreitet war, und selbst die Chinesen konnten den Tibetern den Glauben an ihre Geister nicht austreiben, denn nach Ansicht der Buddhisten bewohnen verschiedene Arten von Wesen die Welt.
"In der Erde und im Wasser leben schlangenartige Geister, von derer Wohlwollen der Regen und damit die Ernte abhängt. Im Zwischenbereich tummeln sich die Beschützer der Dörfer und der Familienunterkünfte, die Hausgötter, die in Tälern und auf Felsen hausenden Geister und viele weitere Kobolde, Götter und Naturmächte. Auf Bergspitzen und in himmlischen Gefilden schließlich thronen mächtigere Götter, die das Land, die Religion, sowie die Himmelsrichtungen beschützen."
Jeder Tibeter mußte bestimmte Riten beachten, um die Götter nicht zu erzürnen, denn das war gefährlich. Sogar während der Feldarbeit verabsäumten sie es nicht, fleißig mystische Formeln aufzusagen. Trotz ihrer ständigen Angst vor bösen Geistern waren die Tibeter ein glückliches Volk. Sicherlich wäre der Dalai Lama fähig gewesen, ihnen die Angst zu nehmen und über kurz oder lang in seinem - nach unseren Begriffen etwas rückständigen - Land Reformen durchzuführen, doch die Chinesen verwehrten ihm diese Chance.
Freilich rühmen sich die chinesischen Funktionäre heutzutage, daß sie es waren, welche die Leibeigenschaft und die Sklaverei abgeschafft haben, doch andererseits unterdrückten sie die tibetische Bevölkerung auf brutale Art und Weise und raubten ihr jegliche persönliche Freiheit.
Das Regierungssystem im "alten Tibet"
Anfang des 17. Jh. entstand unter dem 5. Dalai Lama die spezielle tibetische Staatsform, die häufig als lamaistische Theokratie bezeichnet wird. Die Regierung bestand aus den Staatsministern, dem Staatsrat, der Nationalversammlung und der Exekutive. Alle wichtigen Entscheidungen mußten dem Dalai Lama unterbreitet werden. Gemeinsam mit dem Panchen Lama stand er über alle kirchlichen und weltlichen Institutionen.
War der Dalai Lama noch minderjährig, vertrat ihn ein von der Nationalversammlung bestimmter Regent. Um eine effektive Kontrolle zu gewährleisten, wurden alle bedeutenden Posten der Zentralregierung von einem Laien und einem Mönch, also doppelt, besetzt. Anfang des 20. Jh. arbeiteten in den verschiedenen Körperschaften der Regierung jeweils 175 Mönche und 175 Zivilbeamte. Abstimmungen waren in der Nationalratsversammlung unüblich. Statt dessen wurde solange debattiert, bis sich kein Widerspruch mehr regte. Da die Mönche nur wenig zu verlieren hatten, setzten sie meist ihre Meinung gegen den wohlhabenden Adel durch.
Landbesitzverhältnisse
Grundsätzlich gehörte alles Land dem Dalai Lama und damit dem tibetischen Staat, der es entweder selbst bewirtschaftete oder verpachtete. Die Klöster und die Adeligen erhielten lediglich ein Bewirtschaftungsrecht, die einen zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz, die anderen als Gegenleistung für ihre Regierungsdienste.
Die Bearbeitung dieser Nutzflächen übernahmen die tibetischen Bauern. Für ihre Frondienste bekamen sie von ihren Lehnsherren in der Regel kleinere Parzellen zur eigenen Bewirtschaftung. Die Pachtverhältnisse unterschieden sich von Region zu Region und können nicht verallgemeinert werden.
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