Ein Japaner und ein Deutscher sind zu Besuch in einem europäischen Automo-bilwerk. Der Firmenleiter führt die beiden durchs Werk. Nach der Schweißstraße steht abseits eine Karosserie zur Nachbearbeitung. Das Werk verfügt sonst über einen überdurchschnittlichen hohen Qualitätsstandard. Doch hier bemerkt der Werksleiter beiläufig: "Niemand ist perfekt!" Daraufhin sagt der Deutsche: "Gott sei Dank!" und geht beruhigt weiter. Der Japaner dagegen spitzt die Ohren und fragt: "Wo finde ich Niemand?"
Die Lernbegierde, der Wille nach ständiger Verbesserung und die Freude an der Technik, die Besucher in japanischen Unternehmungen feststellen, sind für sie beeindruckend. Nachfolgend werden daher kurz die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Japan er-läutert.
3.2.1 DIE JAPANISCHE GESELLSCHAFT ALS GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT
In der japanischen Kultur spielt der Begriff Amae eine zentrale Rolle. Amae läßt sich als die Bejahung von Abhängigkeit in einer symbiotischen Beziehung charakterisieren. Der Gewinn dieser Beziehung liegt für den einzelnen unter anderem in der Verläßlichkeit, der Harmonie und der Geborgenheit, die sie gewährt. Seine Identität gewinnt der Einzelne nicht außerhalb, sondern in der Gruppe und durch die Gruppe; ein Verrat an der Gruppe wäre damit auch ein Verrat an sich selbst. Die japanische Arbeitskultur setzt deshalb zumeist auf Uniformität. Dies zeigt sich im gleichen Overall für alle bis hin zum Einheit-sarbeitsplatz im Großraumbüro. Privilegien und Lohndifferenzierungen sind stark einge-grenzt. Da im Amae-System, aber auch im japanischen Bewußtsein, zumindest teilweise die Gefahr der Verleugnung des eigenen Selbst besteht, verlangt das Amae-System offen-bar ein hohes Maß an Selbstdisziplin.
Harmonie und Geborgenheit stellen zentrale Güter der geschlossenen Gesellschaft dar. In japanischen Unternehmungen prägt das Harmoniestreben in wesentlichem Ausmaß den Prozeß der Entscheidungsfindung. Die offene Diskussion verschiedener Standpunkte wird vermieden. Vielmehr wird auf informeller Ebene ein Konsens gesucht und damit die Entstehung von Konflikten verhindert. Erst wenn mit der Unterstützung auch von wichti-gen Entscheidungsträgern zu rechnen ist, erfolgt im Rahmen eines offiziellen Zusammen-treffens die Absprache detaillierter Einzelheiten. Im Vordergrund des Entscheidungspro-zesses und der Konsensfindung stehen die Förderung bzw. Nichtgefährdung der Grup-penzusammengehörigkeit sowie die Erhöhung des Verantwortungsgefühls jedes einzelnen für die getroffene Entscheidung. KAIZEN stellt jedoch jeden bisher erreichten Zustand in Frage und strebt eine kontinuierliche Verbesserung an. Dies ist die innerbetriebliche
Widerspiegelung der für die offene Gesellschaft konstitutiven Grundüberzeugung der Irrtumsbehaftetheit und Vorläufigkeit allen bisherigen Denkens und Handelns. Japan praktiziert damit eine Kombination aus sozialer Geschlossenheit und geistiger Offenheit, die im europäischen Denken eher fremd ist. Fragt man nach einer Erklärung dieser Kombi-nation, so bietet sich die These an, daß im japanischen Denken nicht deduktiv, sondern eher induktiv (und insofern offen) vorgegangen wird. Handlungsleitend sind keine meta-physischen Prämissen und logischen Deduktionen, sondern eine Analyse der Erfahrung.
3.2.2 MENSCHENBILD
KAIZEN beruht auf der Annahme, daß Menschen nach Qualität und Werten, wie beispielsweise Selbstverwirklichung, streben. Damit läßt sich das Menschenbild, wie es MC GREGOR in seiner Theorie Y definierte, zuordnen.
Für die Theorie Y nennt er folgende Voraussetzungen:
1. Die Verausgabung durch körperliche und geistige Anstrengungen beim Arbeiten kann als ebenso natürlich gelten wie Spiel und Ruhe.
2. Von anderen überwacht und mit Strafe bedroht zu werden, ist nicht das einzige Mit-tel, jemanden zu bewegen, sich für die Ziele der Unternehmung einzusetzen. Zugun-sten von Zielen, denen er sich verpflichtet fühlt, wird sich der Mensch der Selbstdisziplin und Selbstkontrolle unterwerfen.
3. Wie sehr er sich Zielen verpflichtet fühlt, ist eine Funktion der Belohnung, die mit ihrem Erreichen verbunden ist.
4. Der Durchschnittsmensch lernt, unter geeigneten Bedingungen Verantwortung nicht nur zu übernehmen, sondern sogar zu suchen.
5. Die Anlage zu einem verhältnismäßig hohen Grad von Vorstellungskraft, Urteils-vermögen und Erfindungsgabe für die Lösung organisatorischer Probleme ist in der Bevölkerung weit verbreitet und nicht nur hier und da anzutreffen.
6. Unter den Bedingungen des modernen industriellen Lebens ist das Vermögen an Ver-standeskräften, über das der Durchschnittsmensch verfügt, nur zum Teil genutzt.
Als das zentrale Prinzip der Theorie Y nennt er Integration: "Schaffen von Bedingungen solcher Art, daß die Mitglieder der Organisation ihre eigenen Ziele am besten erreichen, wenn sie sich um den Erfolg des Unternehmens bemühen." Vor diesem Hintergrund ist der Mitarbeiter nicht nur Produktionsfaktor, sondern er rückt in den Mittelpunkt der Be-trachtung. Dadurch läßt sich der hohe Stellenwert des Mitarbeiters auf allen Stufen einer Unternehmung erklären, deren Unternehmungskultur KAIZEN beinhaltet. Von den Mitar-beitern wird starkes Engagement und aktive Mitgestaltung in der Unternehmung nicht nur begrüßt, sondern erwartet.
3.2.3 UNTERNEHMUNGSKULTUR
Der Begriff der Unternehmungskultur wurde bereits auf Seite 7 erläutert. In Anlehnung an SCHNYDER (vgl. Abbildung 2.1 auf Seite 8) weißt eine Unternehmung, die KAIZEN in ihr Unternehmensleitbild integriert hat, bezüglich ihres grundsätzlichen Problemlösung-sansatzes eher informell-intuitive Problemlösungsfähigkeiten auf. Ihre Unternehmenskul-tur entspricht daher eher einer Visions-Kultur.
Nach SCHNYDER benutzen solche Unternehmungen Management-Instrumente, die eher informeller, dezentraler und unhierarchischer Natur sind. Dem Mitarbeiter wird eine hohe Bedeutung bezüglich seines Problemlösungspotentials beigemessen. Bei einer Visions-Kultur werden zudem Probleme sehr früh wahrgenommen. Die Mitarbeiter lassen sich bei der Problemlösung von Visionen leiten und die Unternehmung zeichnet sich durch eine Vordenker-Rolle aus. Im Mittelpunkt stehen die Mitarbeiter als Problemlöser.
In Zusammenhang mit KAIZEN ist es wichtig zu betonen, daß es keine Unternehmung ohne Probleme gibt. Für KAIZEN bedarf es daher einer Unternehmungskultur, in der jeder ungestraft das Vorhandensein von Problemen eingestehen kann. Nach WEHNER ist eine positiv konnotierte Irrtumsethik damit Voraussetzung für die Initiierung von Konti-nuität und nicht eine Vorstellung von Einmaligkeit und Endgültigkeit: "Wahrheit ist ein zweckmäßiger Irrtum und keinesfalls dessen endgültige Überwindung". Aber nur dann, wenn der Mitarbeiter wirklich ein gegenseitiges Gefühl der Verpflichtung und des Ver-trauens empfindet, kann die Unternehmungsleitung von ihm verlangen, daß er sowohl seine "Muskelkraft" als auch seinen Kopf einsetzt. Voraussetzung für ein besonderes En-gagement der Mitarbeiter ist es deshalb, einen Wandel der Unternehmungskultur von der bisherigen "Zweck-Gemeinschaft" zu einer künftigen "Sinn-Gemeinschaft" zu vollführen. Dem japanischen Management gelingt es, aus ihren Unternehmungen
"Sinn-Gemeinschaften" zu machen, die einem Leitbild mit immateriellen Werten folgen. "Sinn-Gemeinschaft" bedeutet, daß die Mitarbeiter darüber nachdenken, wie sie ihre Unternehmung durch vorrangigen Dienst am externen Kunden und den Kollegen und Mi-tarbeitern als internen Kunden fördern können, und daß sie entsprechend handeln. Eine derartige Ausrichtung muß einen visionären Unternehmungsansatz haben. Eine Unternehmung ist immer zweckgerichtet und es geht darum, den Zweck der Unternehmung zu vermitteln. Schon das Wort "Organisation" läßt von vornherein die Frage offen: "Or-ganisieren wofür?"
Die Mitarbeiter müssen durch die Unternehmungsleitlinien mit einbezogen werden. Jeder Mitarbeiter muß sich verinnerlichen, daß jeder Vorschlag ein Stück mehr seinen Arbeits-platz in der Unternehmung sichert."
Abbildung 3.1 Auswirkungen von Verbesserungsvorschlägen
Wichtig ist, daß Vorschläge nicht zum Nachteil des Einreichers werden können, beispielsweise wenn ein durch KAIZEN verursachter Produktivitätsfortschritt unter Beibe-haltung der Mitarbeiterzahl nicht in höhere Leistung umgewandelt werden kann, sondern aufgrund eines konstanten Bedarfs zwangsläufig zu weniger Personal führt. Während das Problem "Rationalisieren ohne zu entlassen" nur eine Frage entsprechender Überein-kommen ist, ist es schon schwieriger mit dem Vertrauen, daß die Rationalisierung nicht doch in Einspar¬ung von Personal und Intensivierung der Arbeit (Selbst-Wegrationalisierung) umgemünzt wird. KAIZEN setzt damit großes Vertrauen ("high trust") in mehrfachem Sinne voraus, was durch die Unternehmungskultur gelebt werden muß. Das Gebot des § 2 Betriebsverfassungsgesetz, "zum Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebes" vertrauensvoll zusammenarbeiten, gewinnt dadurch neue Seiten.
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