a. Grenouille:
Grenouille wird, um sein Äußeres und seinen Charakter zu beschreiben, immer wieder mit Tieren verglichen, die eher negativ besetzte Assoziationen wecken und unangenehme Gefühle im Menschen wachrufen. Auf den animalischen Wesenszug Grenouilles verweisen nicht nur Nomen ("Kröte", "schwarze Spinne"), sondern auch Verben wie zischeln, verharren, krächzen, lauern und schnarren, die seine Lebens- und Sprechweise beschreiben und eher Ablehnung hervorrufen.
Als dominierender Vergleich ist jedoch das Bild vom "Zeck" anzusehen, das sich durch den gesamten Roman zieht und Grenouilles zweite Existenzebene verdeutlicht. Dabei ist der Hinweis auf den "zeckischen" Charakter Grenouilles immer mit besonderen, zum Teil existenziellen Momenten in Grenouilles Leben oder mit neuen Lebensabschnitten verbunden.
Eine Zecke wird als zäh, still, resistent und genügsam beschrieben, als ein Animal, das von nur einem Blutstropfen leben kann, den es vor Jahren erbeutet hat. Eine Zecke ist hässlich, grau und klein, unansehnlich, einsam, blind, stumm, taub, dabei aber stur, bockig und zäh.
Die Gemeinsamkeiten zwischen der Existenzweise einer Zecke und dem Leben Grenouilles sind augenfällig. Beide halten sich im Hintergrund, leben zurückgezogen und unauffällig, halten ihre eigenen Interessen zurück, bis der Zeitpunkt kommt, diesen Interessen nachzugehen. Der Vergleich zwischen einer Zecke und Grenouille wird zum Beispiel verdeutlicht, als Grimal seinem Gerbergehilfen einige Freiheiten zugesteht. Grenouille beginnt das Geruchsrevier Paris zu erobern: "Die Zeit des Überwinterns war vorbei. Der Zeck Grenouille regte sich wieder. Er witterte Morgenluft. Die Jagdlust packte ihn." (S.43)
Mit dem Wechsel zu Baldini verbessern sich die Lebensbedingungen Grenouilles zwar, aber dies nur deshalb, weil Baldini erkennt, wie wertvoll der Junge in ökonomischer Hinsicht für ihn ist. Eine menschliche Beziehung baut Baldini zu Grenouille nicht auf; selbst seine karitativen Gesten am Krankenbett Grenouilles sind von ökonomischen Beweggründen gesteuert und keinesfalls Ausdruck menschlichen Mitgefühls. Im Gegensatz zu Grimal praktiziert Baldini lediglich eine menschlichere Variante der Ausbeutung.
Auch der Marquis de la Taillade-Espinasse hat kein Interesse an dem Menschen Grenouille. Dem Marquis ist Grenouille nur als lebender Beweis für seine Theorie wichtig. Dass Taillade-Espinasse Grenouille in die Gesellschaft einführt, soll seinen Ruhm mehren, erfolgt aber nicht aus Sympathie für sein "Beweisstück".
Madame Arnulfi und ihrem Liebhaber Druot bleibt der neue Geselle ebenfalls fremd. Sie interessieren sich nur insoweit für Grenouille, als er den Geschäftsbetrieb in Gang hält und eine Entlastung von eigener Arbeit fördert.
Die "Liebe", die die Massen Grenouille am Tage seiner Hinrichtung entgegenbringen und die auch in Richis\' Wunsch zum Tragen kommt, Grenouille zu adoptieren, ist nicht Ausdruck wahrer menschlicher Gefühle, sonder beruht ja auf der Verführungskraft des Grenouilleschen Parfums. Diese "Liebe" hebt also nicht die Entfremdung auf, sondern verdoppelt sie. Sie verschärft die Distanz zwischen Grenouille und seinen Mitmenschen, fördert den tiefsitzenden, auf der Erfahrung der Ablehnung beruhenden Hass wieder ans Tageslicht. Auf der anderen Seite treibt sie Grenouille von sich selbst weg, weil er erkennen muss, dass sein "Menschsein" an das Parfum gebunden und daher flüchtig ist und auf einer Täuschung beruht. Grenouille wird zum Gefangenen seiner Genialität. Er will zwar den Menschen gleich werden, einmal als einer von ihnen angesehen werden. Doch die Menschen können ihn nicht als den erkennen, der er ist. Daraus resultiert sein Hass auf die Menschen.
Grenouille scheitert nicht an sich selbst, sondern an den Menschen. In der Unmenschlichkeit Grenouilles, in seiner kalten Grausamkeit und seiner gefühlsleeren Psyche, spiegeln sich die Grausamkeit und Gefühlskälte der menschlichen Gesellschaft und der Individuen, mit denen Grenouille in sozialen Kontakt kommt.
Grenouille ist die Hauptfigur, die keinen Gegenspieler, bestenfalls Mitspieler hat. Alle Menschen denen er begegnet ist, haben Ziele. Keiner von ihnen erreicht diese aber, denn immer wieder spielt ihnen der Zufall einen Streich.
b. Baldini:
Baldini ist ein Kritiker der Aufklärung und verabscheut es in die Zukunft zu blicken.
Er sieht die Ursache seines bevorstehenden wirtschaftlichen und sozialen Untergangs im "hemmungslosen Tatendrang" und der "Experimentiersucht" des neuen Zeitalters. Die wirtschaftlichen Entwicklungen sind für ihn ein Wahnsinn. Er steht Veränderungen ablehnend gegenüber, weil er nicht fähig ist sich mit zu verändern.
c. Marquis de la Taillade-Espinasse:
Der Marquis ist im Gegensatz zu Baldini weltoffener, gebildeter und zukunftsorientiert. Er hat sich einen gewissen Ruhm in wirtschaftlichen Kreisen erworben, u.a. mit aberwitzigen Theorien, doch zu seinem Durchbruch fehlt ihm noch ein schlagkräftiger Beweis hinsichtlich seiner Theorie vom "fluidum letale". Der Marquis ist naiv, und Grenouille treibt sein Spiel mit ihm.
d. Richis:
Antoine Richis ist die Verkörperung des reichen Handels- und Kaufmannsbürgertum. Er verfügt über einen wachen Geist und eine gehörige Portion Menschenverstand. Doch der Versuch Richis\' seinen Verstand zu gebrauchen endet in einem Desaster, denn die Vernunft muss vor der Verführungskraft des Parfums kapitulieren.
Sprache
Für den Erfolg des Romans ist auch die Sprache verantwortlich. Der Autor scheint beweisen zu wollen, dass unsere Sprache zur Beschreibung der riechbaren Welt sehr wohl ausreicht. Landschaften, Menschen, Tiere, Gegenstände werden anhand der von ihnen ausgehenden Gerüche beschrieben, ja sogar über sie definiert, indem sie in kleine und kleinste Geruchsnuancen differenziert werden. "Der Schöpfer des Geruchsgenies und Mörders Grenouille tritt uns auch als Schöpfer von Wortkompositionen entgegen, die sich, oft in langen Reihungen, kaskadenhaft über ganze Zeilen ergießen. Das ist ein Schwelgen in Vergleichen, Abtauchen in Adjektivhypertrophien, ein Kumulieren von Superlativen, gleichsam um sich an den Kern eines Geruchs sprachlich " (Bernd Matzkowski). Süskinds Roman spielt in der duftenden Welt der Parfumeure und der stinkenden Welt der Stadt und der menschlichen Ausdünstungen. Da die Hauptfigur die Umwelt nahezu ausschließlich olfaktorisch erfasst und das Handwerk eines Parfumeurs erlernt, stammen die dominanten Wortfelder aus den gegensätzlichen Bereichen Duft und Gestank. Seine besondere Aufmerksamkeit schenkt der Autor daneben der Darstellung des Parfumeurwesens und der Techniken zur Parfumherstellung im 18. Jahrhundert, wobei er die gebräuchlichen Fachbegriffe verwendet. Zur Beschreibung dienen immer wieder Vergleiche (der König stinkt wie ein Raubtier(S.6), der Schweiß des Mädchens aus Paris riecht frisch wie Meerwind, ihr Haar süß wie Nussöl (S54))
Um den Lesern die Nuancen eines Duftes sprachlich zu veranschaulichen, verwendet der Autor aber auch Kontraste.(Pelissiers Parfüm ist "frisch, aber nicht reißerisch" und "blumig ohne schmalzig zu sein"(S.79))
Schon im ersten Kapitel des Romans kommen Wiederholung, als auch Parallelismus als Stilmittel vor(Wiederholung derselben Satzteilreihenfolge in zwei oder mehreren aufeinanderfolgender Sätzen) als auch in Form der Anapher (Wiederholung desselben Wortes oder derselben Wortgruppe am Anfang mehrerer aufeinander folgender Sätze). So wird der gesamte zweite Abschnitt des ersten Kapitels vom Verb "stinken" regiert.
Ein weiteres Stilmittel sind Aufzählungen, die sich, sowohl im Bereich der Adjektive als auch der Substantive, zu regelrechten Hyperthrophien auswachsen können.
Superlative sind ebenfalls ein signifikantes Merkmal des sprachlichen Inventars des Autors.
Epoche
Süskinds Roman spielt in der Epoche der Aufklärung. Mit dem Parfumeur Baldini, dem wissenschaftsbegeisterten Marquis de la Taillade-Espinasse und dem Patrizier Richis zeigt er uns nicht nur drei Vertreter der französischen Ständegesellschaft des 18. Jahrhunderts, sondern auch drei Modelle des Reagierens auf die Entwicklungen und Herausforderungen der Zeit. Über die neue Zeit, ihre politischen Ideen, wissenschaftlichen Entdeckungen und sozialen und technischen Neuerungen, erfährt man am meisten in den Kapiteln, die in die Welt des Parfumeurs Baldini führt. Dessen Blick auf die neue Zeit ist aber durch seinen ökonomischen Niedergang bestimmt. Zwar gesteht sich Baldini ein, dass er nie ein großer Parfumeur oder Erfinder von Düften gewesen ist, doch sieht er die Ursache für seinen ökonomischen und sozialen Abstieg und den Aufstieg seines Konkurrenten Pelissier in der hektischen Neuerungssucht, dem hemmungslosen Tatendrang, der Experimentiersucht des neuen Zeitalters. Den Veränderungen in Handel und Verkehr, Geistesleben, Wissenschaft und gesellschaftlichem Leben steht Baldini ablehnend gegenüber. Baldini ist ein Kritiker der Aufklärung - aber sein Blick ist rückwärtsgewandt. Marquis de la Taillade- Espinasse ist im Vergleich zu Baldini weltoffen, gebildet und zukunftsorientiert - allerdings ins Parodistische überzeichnet. Antoine Richis ist die Verkörperung der neuen Patrizierschicht, des reichen Handels- und Kaufmanns-Bürgertums.
Textanalyse:
Süskinds fiktionaler, ästhetisch kreativer Text, ist ein einsträngig chronologisch erzählter Roman er beginnt mit der Geburt des Protagonisten, endet mit dessen Tod und umfasst eine erzählte Zeit von rund 29 Jahren. Somit ergibt sich Zeitraffung, denn die Erzählzeit ist wesentlich kürzer als die erzählte Zeit. Der auktoriale Erzähler organisiert die Elemente der Geschichte, wie Ereignisse, Figuren, Schauplätze und Zeit, von einem allwissenden Standpunkt aus, wendet sich gelegentlich in Kommentaren an die Leserinnen und Leser. Der Erzähler bedient sich überwiegend des Erzählerberichts, wobei Ereignisse, Figuren und Räume ebenso beschrieben werden wie die Gedanken und Empfindungen der Figuren (Innensicht) vor den Lesern ausgebreitet werden. Der Autor verwendet verschiedene Formen der Personenrede(direkt oder indirekt). Er verzichtet allerdings auf erzählerische Mittel wie z.B. den inneren Monolog.
Literarische Vorbilder
Süskinds monströser Mörder hat etliche literarische Vorbilder, um nicht zu sagen Vorväter, Hugos Quasimodo, der Glöckner von Notre-Dame, ist zu nennen, mit dem Grenouille das hässliche Äußere teilt. Chamissos Peter Schlemihl hat keinen Schatten, Süskinds Grenouille keinen Eigengeruch. E.T.A. Hoffmanns Goldschmied Cardillac sieht in der Dunkelheit, Grenouille riecht sich durch die Dunkelheit. Huysmans Des Esseintes (A Rebours) schließlich gibt die Vorlage für Süskinds "Supernase" ab. Und der Froschkönig (Grenouille = der Frosch) lässt sich ebenso als Urahn erkennen wie Zwerg Nase. Der Autor spielt virtuos mit literarischen Motiven. Die Schöne (Laure Richis) und das Biest (Grenouille) begegnen sich - allerdings ohne "Happyend".
Genre
"Das Parfum" ist ein Reiseroman und führt uns von Frankreichs Hauptstadt ins Zentralmassiv auf den Vulkan Plomb du Cantal, nach Montpellier und in die Stadt der Düfte und Parfumeure, Grasse, und schließlich nach Paris zurück. Süskinds Werk ist ein historischer Roman, der Details der Handwerkstechnik der Gerber und Parfumeure ebenso vor uns ausbreitet wie er uns, wenn auch mit unübersehbaren, parodistischen Elementen, das Zeitalter der Aufklärung vor Augen führt. Und der Autor gewährt uns einen Einblick in die hygienischen Verhältnisse des 18. Jahrhunderts.
Süskinds Werk weist aber auch Elemente des Entwicklungsromans auf, denn wir verfolgen den inneren und äußeren Werdegang Grenouilles von der Geburt bis zum Tod. Auch von Horrorromanen sind Elemente enthalten, der Autor stattet seinen "Helden" mit Fähigkeiten, Eigenschaften und Verhaltensweisen aus, die gleichermaßen bizarr und befremdend wie angsteinflößend sind.
Der Untertitel des Romans deutet schon auf das Genre des Kriminalromans hin. Und immerhin bringt es Grenouille auf die stattliche Anzahl von 26 Morden. Und geschickt versteht es der Erzähler, die diesbezüglichen Erwartungen der Leser zu wecken, wenn es gleich zu Beginn über Hauptfigur heißt, sie gehöre "zu den genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche" (S.5).
Nicht zuletzt werden auch die Freunde erotischer Literatur auf ihre Kosten kommen, denn bei den Opfern Grenouilles handelt es sich immer um ausgesucht schöne Mädchen: "...hatte ein so entzückendes Gesicht, dass Besucher jeden Alters und Geschlechts augenblicks erstarrten und den Blick nicht mehr von ihr nehmen konnten...", heißt es über Laure Richis, Grenouilles 26. Opfer (S.254).
Zusammenfassend:
Süskinds Roman hat eine so faszinierende Wirkung daher, weil es für Interpretationen so gut wie keine Einschränkungen gibt. Die Bandbreite der Interpretationsmöglichkeiten ist enorm.
Augenscheinlich ist der Vergleich des Massenwahns, den Grenouille bei seiner Hinrichtung auslöst, mit jenem des Dritten Reiches unter Hitlers Führung.
Entscheidend ist aber die Gestaltung des Umgangs der an der Massenorgie beteiligten Personen mit ihrem Tun. Blendet man bei der Lektüre des entsprechenden Abschnitts den konkreten textlichen Bezug des Romans, die Orgie, aus und ersetzt ihn durch den historischen Kontext der jüngeren deutschen Vergangenheit, so ergeben sich verblüffende und zugleich erschreckende Parallelen mit der Verdrängung des faschistischen Erbes durch große Teile der Kriegsgeneration: "Vielen erschien dieses Erlebnis so grauenvoll, so vollständig unerklärlich und unvereinbar mit ihren eigentlichen moralischen Vorstellungen, dass sie es buchstäblich im Augenblick seines Stattfindens aus ihrem Gedächtnis löschten und sich infolgedessen auch später wahrhaftig nicht mehr daran zurückerinnern konnten. Andere, die ihren Wahrnehmungsapparat nicht so souverän beherrschten, versuchten, wegzuschauen und wegzuhören und wegzudenken - was nicht ganz einfach war, denn die Schande war zu offensichtlich und zu allgemein" (S.312).
Auch die Selbstfindung eines Menschen könnte als Grundlage für eine Interpretation dienen, oder die Sehnsucht nach dem Absoluten, ihre Ursachen und ihre Folgen.
Jeder dieser Interpretationsansätze muss mit Vorsicht genossen werden, da man über die wirklichen Intentionen des Autors nichts genaues weiß. Doch vielleicht ist gerade das der Wunsch Süskinds, dass sich der Leser nach dem Studieren der Lektüre selbständig Gedanken macht und nicht stur irgendwelchen Interpretationen hinterherläuft.
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