Hugo von Hofmannsthal: "Siehst du die Stadt?" Georg Trakl: "An die Verstummten"
Siehst du die Stadt, wie sie da drüben ruht, O, der Wahnsinn der großen Stadt, da am Abend
Sich flüsternd schmieget in das Kleid der Nacht? An schwarzer Mauer verkrüppelte Bäume starren,
Es gießt der Mond der Silberseide Flut Aus silberner Maske der Geist des Bösen schaut;
Auf sie herab in zauberischer Pracht. Licht mit magnetischer Geißel die steinerne Nacht verdrängt.
O, das versunkene Läuten der Abendglocken.
Der laue Nachtwind weht ihr Atmen her,
So geisterhaft, verlöschend leisen Klang: Hure, die in eisigen Schauern ein totes Kindlein gebärt.
Sie weint im Traum, sie atmet tief und schwer, Rasend peitscht Gottes Zorn die Stirne der Besessenen,
Sie lispelt, rätselvoll, verlockend bang... Purpurne Seuche, Hunger, der grüne Augen zerbricht.
O, das gräßliche Lachen des Golds.
Die dunkle Stadt, sie schläft im Herzen mein
Mit Glanz und Glut, mit qualvoll bunter Pracht: Aber stille blutet in dunkler Höhle stummere Menschheit,
Doch schmeichelnd schwebt um dich ihr Widerschein, Fügt aus harten Metallen das erlösende Haupt.
Gedämpft zum Flüstern, gleitend durch die Nacht.
(Ende 1913)
(1890)
Aufgabe: Interpretieren Sie das Gedicht von Trakl!
Beziehen Sie vergleichend das Hofmannsthal- Gedicht unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Darstellung der (Groß-) Stadt und der widergespiegelten Epochenmerkmale ein!
Einer der bedeutendsten Schriftsteller der Zeit des deutschen Expressionismus war Georg Trakl. Trakl lebte von 1887 bis 1914 und hatte große Probleme mit seiner Umwelt. Diese Probleme versuchte er durch Mißbrauch von Drogen zu verdrängen. Er schrieb weltbekannte Gedichte, wie "Die Ratten" oder "Grodek". Meistens beschrieb er die Verwirrung der Menschen der damaligen Zeit und schilderte den Ersten Weltkrieg. Ein anderes Thema der Expressionisten war die Großstadt, die sie durch ihre Hektik anzog, aber gleichzeitig auch abstieß. Diesem Thema wandte sich Trakl in seinem Gedicht "An die Verstummten" zu. Er beschreibt alle negativen Aspekte der Großstadt. Mir scheint es, als ob er sie haßt.
"Der Wahnsinn der Großstadt" wird für Trakl niemals enden. All der Lärm, die Hektik spiegelt für Trakl, der das lyrische Ich verkörpert, den Wahnsinn wider wieder. Die Menschen sind sich untereinander fremd. Alles dreht sich nur um Geld. Die Menschen scheinen nur noch als "verkrüppelte Bäume" zu existieren- Arbeitstiere, die nur noch das machen, was ihnen befohlen wird. Sie leben in "schwarzen Mauern" (gemeint sind verdreckte Häuser)- anonym und nach einem langen Arbeitstag müde. Diese Menschen befinden sind in einer hoch technisierten Umgebung. Diese Technik ist für das lyrische Ich der "Geist des Bösen", da hinter dieser "silbernen Maske"- Metalle, aus denen Züge, Flugzeuge, aber auch Waffen geschaffen werden, kein Mensch steht, sondern eine Maschine. Durch die verbreitete Elektrotechnik wird der Wahnsinn nie zur Ruhe kommen, denn Straßenlaternen, oder wie es genannt wird "Licht", das "mit magnetischer Geißel die steinerne" Nacht verdrängt, beleuchtet die Umgebung. Das Szenario der hektischen Großstadt mit qualmenden Schornsteinen, lärmenden Kraftfahrzeugen ist die ganze Zeit klar erkennbar- ein schrecklicher Gedanke für den Spaziergänger (das lyrische Ich befindet sich in der Großstadt, läuft durch sie hindurch und schaut sich alles mit Abscheu an). In dieser ausweglosen Lage sehnt er sich nach Ruhe, die er für kurze Zeit in dem "versunkenen Läuten der Abendglocken" findet. Er vermißt die Ruhe, was in dem Ausruf "O" deutlich wird. Hier steht es für einen bedauernden Seufzer. Man findet weitere dieser Ausrufe, aber in der Bedeutung des Ekels vor der Stadt. Dieser glückliche Moment ist jedoch nur von kurzer Dauer und man muß sich fragen, ob diese Heiligkeit in der Großstadt noch eine Chance hat. Beantwortet wird dies im selben Vers: Dieses Läuten ist schon "versunken", also im Sterben begriffen. Weitere Heiligkeiten sind in der Großstadt nicht möglich. So "gebärt eine Hure in eisigen Schauern ein totes Kind". Dies entspricht kaum der Liebe, Wärme und Geborgenheit, die das Kind in einer intakten Familie erfahren würde. In diesem Vers findet man auch einen Widerspruch. Es wird von einem "toten Kind" gesprochen. Für mich strahlen Kinder aber neues Leben, Hoffnung aus und nicht Tod. Das Kind wird auch in "eisigen Schauern" von einer Prostituierten, die eher Zerstörung von Familien für mich bedeutet, geboren. Es wird ohne Liebe aufwachsen, da diese Frau das Kind nie haben wollte. Es ist sogar möglich, daß sie das Kind tötet, es wird aber sowieso keine Möglichkeit haben in dieser trostlosen Umgebung zu überleben. Mit "Gottes Zorn, der rasend die Stirne der Besessenen peitscht" wird wieder der Aspekt des Lärmes und der neuen Eindrücke, die man durch die Großstadt gewinnt, angesprochen. Diese Aspekte sind natürlich negativ belegt. Dieser Vers kann auch für das Schuften der Arbeiter stehen, die den ganzen Tag hart arbeiten müssen. Diese Menschen werden ausgebeutet von Unternehmern, die in einer "purpurnen Seuche, Hunger" nach dem "gräßlichen Lachen des Goldes" diese zu willenlosen Robotern machen. Ich denke nicht, daß diese Verse für reellen Hunger oder Seuchen stehen, da dies zu dieser Zeit nicht der Fall war. Es gab zwar eine große arme Unterschicht, doch unter Hunger oder Seuchen mußten sie nicht leiden. Es ist eher die Profitgier, bzw. der Hunger nach Geld der Reichen, der damit gemeint ist. Das Geld, welches erst diese schreckliche Welt möglich machte, wird verdammt. Die "dunklen Höhlen" wo diese Menschen ausgebeutet werden sind große Fabrikhallen, in denen eine anonyme und willenlose ("stummere") Menschheit "ausblutet", indem sie ihre Arbeit verrichtet. Sie wollen sich nicht mehr wehren und verharren "still" in ihrem Schicksal. Diese Menschen sind die "Verstummten", das Gedicht ist jenen gewidmet, um ihnen zu zeigen, wie sie wirklich leben, da diesen Leuten gar nicht klar ist, in welcher Umgebung sie leben. In diesen Fabrikhallen werden aus "harten Metallen", ein Bild für die Knochen, Arme der Arbeiter "erlösende Häupter" hergestellt. Möglicherweise sieht das lyrische Ich schon den kommenden Krieg. Die Waffen stellen für das lyrische Ich, welche in den Fabriken und Gießereien hergestellt werden etwas wie eine reinigende Kraft dar. Es hofft, daß durch diese Waffen die Großstadt, sowie die chaotische Welt zerstört wird. Falls dies zutrifft wäre das lyrische Ich erlöst von seiner Angst vor der neuen Zeit. Wie in allen Gedichten von Trakl ist auch hier das Farbthema vorhanden. In jeder Strophe kommt mindestens eine Farbe vor. Diese Farben untermalen das Böse und Negative der Großstadt. Wie Hugo von Hofmannsthal in seinem Gedicht "Siehst du die Stadt?" benutzt auch Trakl viele Metaphern, wie "Lachen des Goldes", "purpurne Seuche" oder "magnetische Geißel". Hofmannsthal verwendet Metaphern, wie "atmet tief und schwer". Ganz im Gegensatz zu Trakl beschreibt Hofmannsthal in seinem Gedicht die Schönheiten der Stadt. Das lyrische Ich scheint sich auf einem Hügel zu befinden. Es schildert nun einer anderen Person, die sich neben ihr befindet, wie es die Stadt sieht. Bei Trakl schien das lyrische Ich alleine durch die Stadt zu gehen. In beiden Gedichten ist es Nacht. Bei Hofmannsthal jedoch "gießt der Mond Silberseide Flut Auf sie herab in zauberischer Pracht" und "Der laue Nachtwind weht ihr Atmen her"- es ist also eine ruhige, unbewölkte Nacht, in der lauer Wind weht. Bei Trakl hingegen scheint es Gewitter zu geben, denn "rasend peitscht Gottes Zorn" und der Himmel ist bewölkt. Bei Trakl herrscht großer Lärm und Hektik, in "Siehst du die Stadt?" "ruht die Stadt", sie schläft förmlich. Ein weiterer Vergleichspunkt ist die unterschiedliche Beobachtungsweise der Stadt. Hofmannsthal bewundert die Stadt, was man an den Adjektiven bemerkt, die er verwendet("rätselvoll", "verlockend"), Trakl haßt sie und verwendet nur negative Beschreibungsmöglichkeiten. Die Stadt wird vom lyrischen Ich in dem Gedicht von Hofmannsthal als "zauberisch" und "bunt" beschrieben. Ich kann mir richtig vorstellen, wie sauber die Stadt ist und wie sie aus der Entfernung glänzt. Die Stadt in dem anderen Gedicht ist dreckig und von Rauchschwaden durchzogen. Auch ist bei Hofmannsthal's Gedicht keine Rede von einem kommenden Krieg, was in "An die Verstummten" der Fall ist. Wieso aber sieht Hofmannsthal die Stadt anders als Trakl. Dies läßt sich, wie ich denke ganz einfach beantworten. Zu Hofmannsthal's Zeit war die Technik noch nicht so weit entwickelt. Es gab kaum Autos auf den Straßen, da diese viel zu teuer für die Mittelschicht waren. Es war viel ruhiger auf den Straßen. Als Trakl sein Gedicht schrieb, waren neue Erfindungen schon einer breiteren Schicht zugänglich und weitere Erfindungen waren gemacht worden. Dazu gehörten z.B. Telegraphen, Telefone, Flugzeuge. Trakl war durch diese neuen Technik bestimmt verstört. Außerdem sah er einen kommenden Krieg. Wer würde dann noch positiv seine Umgebung beschreiben. Zuletzt möchte ich noch auf den Gedichtsaufbau beider Gedichte eingehen. Hofmannsthal verwendet noch die klassische Form. Drei Strophen à vier Verse mit einem Kreuzraum. Im Gegensatz zu den übrigen Expressionisten bricht Trakl mit der klassischen Gedichtsordnung. Die erste Strophe hat fünf Verse, die zweite vier Verse, die dritte Strophe nur zwei Verse. Es ist kein klares Reimschema vorhanden.
Zum Abschluß möchte ich noch einmal auf die Einstellung der Expressionisten und vor allem Trakl gegenüber den neuen Technik eingehen. Die expressionistischen Schriftsteller waren wie erwähnt gleichzeitig von neuen Maschinen fasziniert, aber sie hatten auch Angst vor ihnen, da sie sehr machtvoll waren und durch einen Fehler oder Mißbrauch könnten hunderte von Menschen sterben. Der Erste Weltkrieg ist das beste Beispiel für den Mißbrauch des neuerlangten Wissens. Millionen von Menschen wurden auf bestialischste Weise dahingeschlachtet. In der heutigen Zeit könnte man dieses Phänomen auf die Computertechnik projizieren. Mit dem Internet ist es möglich alles über einen Menschen herauszufinden. Seine Arbeit, was er über den Staat denkt, sein ganzer Lebenslauf. Die Folge wäre die totale Kontrolle durch eine Regierung über diese Person. Wer ist von solchen Möglichkeiten nicht gleichzeitig fasziniert, hat aber auch Angst vor seiner Zukunft.
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