Die neuen Leiden des jungen W.
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von
Ulrich Plenzdorf
Autor:
Ø Biographie:
· Am 26. Oktober 1934 wird Ulrich Plenzdorf als Sohn einer Arbeiterfamilie in Berlin-Kreuzberg geboren. Seine Eltern sind aktive Mitglieder in der KPD und werden wiederholt von den Nationalsozialisten verfolgt und verhaftet.
· Er beginnt das Studium der Philosophie am Franz-Mehring-Institut in Leipzig, das er aber nach drei Semestern wieder abbricht.
· 1955-1958 Bühnenarbeiter bei der DEFA (Deutsche Film AG).
· 1958/59 Soldat in der Nationalen Volksarmee.
· 1959-1963 Studium an der DDR-Filmhochschule in Babelsberg.
· Seit 1964 Engagement als Szenarist und Dramaturg bei der DEFA.
· 1972 In Halle wird das Stück \"Die neuen Leiden des jungen W.\", das zu einem sensationellen Erfolg in Ost und West wird, uraufgeführt. Es wird von der Fachkritik als wirklichkeitsgetreue Beschreibung des Lebensgefühls eines Großteils der ostdeutschen Jugend eingestuft.
· 1976 Verfilmung \"Die neuen Leiden des jungen W.\" in der Bundesrepublik.
· Am 3. Oktober 1991 zeigt die ARD am Abend der deutschen Einheit Plenzdorfs Film \"Häschen hüpf oder Alptraum eines Staatsanwalts\". Er zeigt die Bundesrepublik in einer Mischung aus Rückblende und Vorgriffen auf Ängste und Befürchtungen.
· 1992 Plenzdorf löst Jurek Becker als Drehbuchautor für die ARD-Serie \"Liebling Kreuzberg\" mit Manfred Krug ab.
· 1997 Mitunterzeichner der \"Erfurter Erklärung\", in der ein Linksbündnis von SPD und Bündnis 90/Grüne ohne Ausgrenzung der PDS zur Ablösung der Regierung Kohl gefordert wird.
· Plenzdorf lebt in Berlin und in einem Dorf im Oderbruch.
Ø Auszeichnungen & Preise:
1971 Heinrich-Greif-Preis 1. Klasse für \"Kennen Sie Urban?\" mit Ingrid Reschke.
Kunstpreis der FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) für \"Kennen Sie Urban?\" im Kollektiv.
1973 Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste/DDR und Heinrich-Greif- Preis.
1978 Auszeichnung mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis für seinen inneren Erlebnismonolog \"Kein runter, kein fern\".
1982 Jacob-Kaiser-Preis für \"Es geht seinen Gang\", zusammen mit Erich Loest.
Werk:
Ø Kulturpolitischer Hintergrund:
Zu Beginn der siebziger Jahre zeichnet sich in der Literatur der DDR eine Entwicklung ab, die Ausdruck der gefestigten Position des sozialistischen Staates ist. Ein Jahrzehnt nach dem Mauerbau, unter der neuen Führung von Erich Honecker und im Zeichen der \"Tauwetterperiode\" in den innerdeutschen Beziehungen, die zur gegenseitigen Anerkennung der beiden deutschen Staaten führen wird, gilt die Existenz eines sozialistischen deutschen Teilstaates in der Welt als historische Tatsache. Von der \"sozialistische Menschengemeinschaft\" ist man zur \"entwickelten sozialistischen Gesellschaft\" übergegangen. Diese gesellschaftliche Entwicklung hat sich auf die Literatur insofern ausgewirkt, als dass die Autoren die Menschen in ihren Werken nicht mehr nur nach sozialistischen Idealen erziehen, sondern zunehmend dazu übergingen, eine Vielzahl von Konflikten innerhalb der Gesellschaft zu thematisieren. Die Themen in dieser Zeit verschieben sich von Darstellungen des Klassenkampfes hin zu Problemen von Individuum und Gesellschaft.
Mit dem VIII. Parteitag der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschland) 1971 wird diese Entwicklung von der Partei anerkannt und somit offiziell eine neue Phase der Kulturpolitik eingeleitet. Diese offizielle Billigung hat zum Ergebnis, dass eine Reihe von Werken, die bislang nicht veröffentlicht werden konnten, nun zum Druck freigegeben werden bzw. aufgeführt werden können. Davon profitiert auch Ulrich Plenzdorf, der die bereits 1968 verfassten \"Neuen Leiden des jungen W.\" nun veröffentlichen kann. Im März 1972 erschien die Prosafassung in der Literaturzeitschrift \"Sinn und Form\" , während im Mai desselben Jahres die Bühnenfassung am Landestheater in Halle uraufgeführt wurde. Die Veröffentlichung des Werkes löste in der Öffentlichkeit der DDR bemerkenswerte Reaktionen aus. Während sich insbesondere die Bühnenfassung großer Beliebtheit erfreute, fand in der Zeitschrift \"Sinn und Form\" und anderen Kulturblättern eine angeregte Diskussion zwischen Literaten und Laien statt.
Auf der 9. Tagung des ZK (Zentralkommittees ) der SED 1973 äußerten Erich Honecker und Kurt Hager Kritik an Plenzdorfs und anderen kürzlich erschienenen Werken. Sie waren der Meinung, dass solche Werke dem Sozialismus entgegenstehen. Sie wollten die Entwicklung der Literatur wieder stärker kontrollieren und teilweise rückgängig machen. Bemerkenswert ist, dass die öffentliche Diskussion über \"Die neuen Leiden des jungen W.\" trotz dieser Einwände weitergeht. Sie ist daher Ausdruck der Emanzipation der Literatur und gleichzeitig ein Meinungsaustausch über Ziele der Neuorientierung.
Ø Inhalt:
Der Lehrling Edgar Wibeau bricht seinem Ausbilder bei einem Streit den Zeh. Er und sein Freund Willi beschließen daraufhin nach Berlin zu gehen und sich an der Kunsthochschule zu bewerben. Nachdem sie dort abgelehnt werden, bleibt er im Gegensatz zu Willi in Berlin und findet in einer abbruchreifen Laube Unterschlupf. Hier lernt er Charlie kennen und verliebt sich in sie. Charlie hegt offensichtlich ebenfalls große Sympathien für Edgar.
Er findet im Klohäuschen der Laube eine Reclamausgabe von Goethes \"Die Leiden des jungen Werther\", wobei er durch die verbrauchten Titelseiten nicht weiß, um welches Buch es sich handelt, und liest sie nach anfänglichem Zögern mit wachsendem Interesse durch. Er nimmt dann Textstellen, die für ihn seine eigene Situation widerspiegeln, auf Tonband auf und schickt sie Willi.
Nach einer gewissen Zeit kehrt Charlies Verlobter vom Wehrdienst zurück, die beiden heiraten und ziehen in einen anderen Stadtteil. Der Kontakt bricht zunächst ab.
Um neue soziale Kontakte zu knüpfen und sich ein wenig Geld zu verdienen beginnt er bei einer Malerkolonne zu arbeiten, die mit der Entwicklung eines nebellosen Farbspritzgerätes (NFG) beschäftigt ist. Aufgrund ständiger Provokationen des Vorarbeiters Addi wird er rausgeschmissen und beschließt, sein eigenes NFG zu entwickeln. Obwohl er auf Zarembas Wirken hin wieder in die Kolonne zurückgeholt wird, arbeitet Edgar weiter an dem Gerät.
Als er Charlie noch einmal besuchen fährt, verbringen die beiden einen Tag zusammen. Sie kehrt am Ende aber wieder zu ihrem Mann zurück.
Edgar ist zutiefst enttäuscht und gedemütigt und beginnt Werthers Motive für Selbstmord zu verstehen. Dennoch schließt er für sich selbst Suizid kategorisch aus. Statt dessen konzentriert er sich auf die Entwicklung seines NFGs. Beim ersten Test erliegt er einem Stromschlag. Bei der Farbexplosion wird die Laube verwüstet und seine Bilder werden unbrauchbar. Er wird am nächsten Tag von seinen Arbeitskollegen gefunden, die ihn suchen kommen, da er bereits zwei Tage unentschuldigt fehlt.
Ø Personen
· Edgar Wibeau ist ein junger Mann voller Widersprüche. Edgar ist der Mustersohn und -lehrling in seinem Heimatort Mittenberg. Er hat seine ganze Kindheit und Jugend über nie jemandem Ärger bereitet oder gegen Konventionen verstoßen.
Er gibt seine familiäre Situation als Motiv seiner Flucht in seine eigene Welt an. Er fühlt sich von der Gesellschaft eingeengt und sieht seine Erfüllung nicht darin, 40 Jahre in einem Kombinat zu arbeiten.
Charlie ist die wichtigste Person in seinem Leben. Bei einem Zusammentreffen mit Dieter wird deutlich, dass er eine starke Abneigung gegen übertriebene Ordnung und Pedanterie hat. Er hat einen Hang zu Blödeleien, den er sowohl mit Zaremba als auch mit Charlie teilt und der ihn mit den beiden verbindet. Es gibt Parallelen zu Werther; aber er hat die Möglichkeit seine Haltung zu ändern.
Er setzt die Sprache Werhers als ,,Waffe\" gegen Dieter und Addie um sie zu schockieren oder sie auf den Arm zu nehmen.
· Die Mutter ist Leiterin des Betriebs, in dem Edgar seine Lehre begonnen hat. Sie hat ihn alleine großgezogen, dem Vater den Kontakt zu seinem Sohn verboten. Nachdem Edgar von zu Hause wegläuft, bricht für sie eine Welt zusammen.
· Der Vater ist neunzehn Jahre älter als Edgar und hat ihn seit seinem fünften Lebensjahr auf Wunsch der Mutter nicht gesehen. Nachdem er von Edgars Tod erfährt, versucht er herauszufinden, wie und wer sein Sohn eigentlich gewesen ist. Er ist nicht, wie Edgar vorgibt, Maler, sondern Statiker. Er trinkt und hat häufig wechselnde Frauenbekanntschaften.
· Charlie ist eine zwanzigjährige Kindergärtnerin und mit dem Wehrdienstleistenden und späteren Literaturstudenten Dieter verlobt, den sie später auch heiratet. Als Edgar sie einige Zeit nach ihrer Hochzeit noch einmal besuchen kommt, verbringen die beiden einen Tag zusammen und lernen sich noch näher kennen. Sie kehrt am Ende aber wieder zu ihrem Mann zurück.
· Zaremba ist Arbeiter in der Malerkolonne Edgars. Er ist schon im Rentenalter und arbeitet freiwillig weiter. Er ist Gewerkschaftsobmann und auch persönlich eine wichtige Autorität in der Kolonne; z.B. schlichtet er Streit, indem er alte Arbeiterlieder anstimmt. Sein ganzer Körper ist mit kommunistischen und \"fortschrittlichen\" Symbolen tätowiert. Er wird zum väterlichen Freund und Vorbild Edgars. Er repräsentiert die Ideale des Sozialismus. Doch dieser Typus wird von der Gesellschaft abgeschoben und sie fristen so wie Zaremba ein unterprivilegiertes Dasein. Dieser Typ hat seine Vorbildfunktion verloren. Dadurch, dass Zaremba zu Edgars Vorbild wird, kann Plenzdorf Kritik an der DDR üben und sich gleichzeitig mit den Idealen des Sozialismus identifizieren.
· Addi ist als Vorarbeiter vollständig in das System der DDR eingebunden. Er repräsentiert einerseits das System, andererseits ist er während seiner Bekanntschaft zu Edgar doch immer wieder sehr hilfsbereit und gutmütig - oft nachdem Zaremba auf ihn eingewirkt hat. Edgar reizt und provoziert Addi ständig während der Arbeit. Dennoch respektiert er Addi auf seine Art.
Ø Aufbau:
Mehrere Erzählebenen, mit unterschiedlichen Funktionen, die miteinander verknüpft sind:
· Zeitungsmeldung und Todesanzeige am Anfang
· Gespräche des Vaters mit den Personen, die seinen Sohn kannten (zeigen die verschiedenen Stadien in Edgars Entwicklung)
· Jenseits-Kommentare von Edgar
· 8 Zitate Werthers ( kommen je 2x im text vor)
kurz und gut / wilhelm / ich habe eine bekanntschaft gemacht / die mein herz näher angeht - einen engel - und doch bin ich nicht imstande / dir zu sagen / wie sie vollkommen ist / warum sie vollkommen ist/ genug / sie hat allen meinen sinn gefangengenommen - ende
nein / ich betrüge mich nicht - ich lese in ihren schwarzen augen wahre teilnehmung an mir und meinem schicksal - sie ist mir heilig - alle begier schweigt in ihrer gegenwart - ende
genug / wilhelm / der bräutigam ist da - glücklicherweise war ich nicht beim empfange - das hätte mir das herz zerrissen - ende
er will mir wohl / und ich vermute / das ist lottens werk / denn darin sind sie weiber fein und haben recht / wenn sie zwei verehrer in gutem vernehmen miteinander erhalten können / ist der vorteil immer ihr / so selten es auch angeht - ende
das war eine nacht - wilhelm / nun überstehe ich alles - ich werde sie nicht wiedersehn - hier sitz ich und schnappe nach luft / suche mich zu beruhigen / erwarte den morgen / und mit sonnenaufgang sind die pferde
o meine freunde / warum der strom des genies so selten ausbricht / so selten in hohen fluten hereinbraust und eure staunende seele erschüttert - liebe freunde / da wohnen die gelassenen herren auf beiden seiten des ufers / denen ihre gartenhäuschen / tulpenbeete und krautfelder zugrunde gehen würden / die daher in zeiten mit dämmen und ableiten der künftig drohenden gefahr abzuwenden wissen - das alles / wilhelm / macht mich stumm - ich kehre in mich selbst zurück und finde eine welt - ende
und daran seid ihr alle schuld / die ihr mich in das joch geschwatzt und mir so viel von aktivität vorgesungen habt - aktivität - ich habe meine entlassung verlangt - bringe das meiner mutter in einem säftchen bei - ende
Ø Romantyp
Entwicklungsroman
Ø Romanaussage/Thematik
Ein junger Mensch auf Identitätssuche oder im Identitätskonflikt. Die Handlung ist sehr sozialistisch geprägt, doch sie wird zusätzlich durch gesellschaftliche Verhältnisse erschwert è Realismus.
Ø Sprache:
· verständliche Prosa, auf die Sprache eines Jugendlichen verlegt
· Begriffe aus der politischen Sprache der ehemaligen DDR
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