Umschlag
Sie wissen nichts von Wahrheit?
Sie wissen nichts von Gerechtigkeit?
Sie wissen nichts von Liebe?
Davon wissen Sie nichts?!
Ich danke, es genügt.
Wir sind fertig, Kandidat Leben!
"Das ist kein Schulroman mehr, das ist ein
hellsichtiger, überwacher, visionärer
Durchblick ins Gesamtbild unseres Daseins.
Das Rätsel >Schule< wird nach allen
Richtungen hin in das größere Rätsel
>Leben< eingebaut"
S. 288
Mein Herz dem Tod entgegenträumt.
Nein! Nein!! Kein Tod!! Weiter leben! Und weiter hassen! Immer dran denken, immer, immer! O jauchzender, o schluchzender, o schöner, schöner Haß! Ich liebe dich, du Haß.
S. 162
Die Erniedrigten können erhoben, die Erhobenen können gestürzt werden.
S. 131
Vorher freilich, da ist nur ein schwellendes Freudegefühl in der Brust, als hätte man ein neues Stück Erde entdeckt und nähme nun jauchzend von ihm Besitz. Und wenn nur das Ende der aufwärts gebogenen Spitzen aus dem Schnee herausragt und wie ein verzauberter Knopf dem Körper vorangleitet, und wenn feine, weiße Wolken um die Füße pulvern, die starken Drucks dem Willen ihres Körpers gefügig sind, und wenn man nichts als leises Knirschen hört und nichts als klare befreite Luft spürt und nichts als glitzernden Himmel sieht, dann - ja, was ist dann?
Dann versagt das Hirn vor Unvergleichlichem.
S. 292
"Gerber!! Um Gottes willen!! Was machen Sie?!"
Die Sonne ist so rot. Sie fällt auf mich herab, ganz
- - -
S. 290
Sie wissen nicht mehr weiter, Kandidat Leben? Es ist genug. Mehr dürfen wir wohl nicht verlangen. Sie können sich setzen.
Wie? Bitte, es ist ja ganz egal. Versuchen wir es also noch mit diesem Beispiel. Das zweite erste Beispiel. Schön. Was bedeutet das? Gut, Sie haben recht. Es wäre zwar besser anders zu lösen gewesen, aber - wie Sie wollen.
Zur Liebe kann man niemanden zwingen.
Wahrheit als Grundfaktor ist hingegen unerläßlich.
S. 233
Muß man ihr denn nicht alles erlauben, nicht alles hinnehmen, was sie tut? Darf man denn in die leuchtende Planlosigkeit dieses Tuns eingreifen wollen mit dunkel erquältem Vorsatz, mit Kleinheit und Begehr? War es nicht schon Schändung, dass er sie eingeladen hat in seine Wohnung, wo er vielleicht sich über sie geworfen hätte, besinnungslos? Und war nicht die Vorstellung, dass sie ihn wahrscheinlich hätte gewähren lassen schrecklicher als alles andre, zerstörender?
S. 165/S. 291
Kurt hat eine feierliche Vision: er steht da, in langem, schwarzem Gewand, zu priesterlicher Höhe gereckt, mit ausgebreiteten Armen und spricht mit großer Stimme: "Im Angesicht des Todes! Dreimal verflucht die Schule! Alles Übel kommt von ihr her!" Der Priester hebt und senkt die Arme. Dreimal. Dann ist er fort.
...
Pst! Psst! Das Unbestimmbare schreitet voran.
Ich komme selbst, mich freuen an euerer Freude.
Der Priester breitet die Arme aus: Dreimal verflucht
- - -
S. 20
Er befahl, und es wurde gehorcht. Er rief, und es wurde geantwortet. Er sprach: "Es werde Ruhe!", und es ward Ruhe. Er sprach - - und es ward Licht um ihn von gleißender Machtbefugnis und strahlender Vollkommenheit. Gott Kupfer.
DEUTUNG
Die Geschichte des Schülers Kurt Gerber, die als "Schulroman" in eine Dichtungskategorie gereiht wurde, ist eine psychologische Studie über die verheerenden Auswirkungen, die Macht an Unterlegenen anrichtet.
Der krankhaft eitle, machtsüchtige "Gott" Kupfer sagt dem persönlichkeitsstarken, intelligenten Schüler Gerber, "Scheri" genannt, den Kampf an. Kupfer, dessen Lebensinhalt die Verteidigung seiner Machtposition in der Schule ist, hat an Generationen von Schülern seine Kampfmethoden erprobt. Er sucht sich starke Opfer, bei denen er sein krankes Spiel voll und ganz auskosten kann. Er attackiert sie mit allen Mitteln, fachlich und persönlich. Sein System geht weit über den einzelnen Schüler hinaus! Er versteht es, die Stellung der Opfer in der Klassengemeinschaft zu schwächen, indem er den weniger Versklavten Freiheiten gewährt, die sie dann stärker als das Opfer machen. Letztendlich steht Kurt in seiner Klasse als Aufwiegler da. Sein Gerechtigkeitssinn und sein Widerspruchsgeist, für die er bislang geschätzt und geliebt wurde, werden ihm zum Verhängnis. Die Welt Kurt Gerbers zerfällt langsam und alles, woran er bisher geglaubt hat, gerät ins Wanken.
Die Schule greift immer mehr in Kurts Privatleben ein. In seiner Familie wird die Zulassung zur Matura und die Reifeprüfung selbst zu einer Frage auf Leben und Tod, denn Kupfer versteht es auch hier, seine Macht zu beweisen! Statt den herzkranken Vater aus den Mathematikproblemen seines Sohnes herauszuhalten, zieht er ihn mitten in den Konflikt hinein, wohl wissend, dass dies Kurts Lage noch mehr belastet.
Für Kurt wankt das Weltbild. Schule verfolgt ihn überall, er beginnt das Leben mit der Schule zu verwechseln. Sein Scheitern in Mathematik wird nach und nach zum Versagen im richtigen Leben.
In dieses Chaos fällt auch noch die unglückliche Liebe zu Lisa Berwald. Kurt verehrt sie in einer Weise, die an die Minne des Mittelalters erinnert. All seine Gefühle und Versuche einer Annäherung sind ehrenhaft und überlegt. Lisa ist dieser Art von Zuneigung gar nicht würdig, sie merkt nicht einmal, wie sehr Kurt unter ihrer Unbekümmertheit, mit der sie ihn hinhält, leidet.
So bricht auch in dieser Beziehung für "Scheri" die Realität zusammen.
In den Kampf mit Kupfer und in die Verehrung seiner Lisa hat Kurt sehr viel Kraft investiert. Langsam wird er schwach. Er lebt die Tage und Nächte in einem Alptraum.
Seine Persönlichkeit wird Stück für Stück zerstört, nur weil ein psychopathischer Lehrer die Schule mit einer Kampfarena verwechselt, nur weil Kupfer in Wirklichkeit ein Nichts ist und sich nur am Untergang seiner Opfer befriedigen kann.
Dass diese Geschichte nicht nur erfunden ist, weiß man aus dem Leben des Autors, der kurz vor der Niederschrift des Romans selbst an der Matura gescheitert ist. Die unfehlbare Macht der Lehrer und des Schulsystems zeigen auch die zehn Zeitungsmeldungen über Schülerselbstmorde, die in der Zeit der Romanverfassung auftauchten.
"Der Schüler Gerber" wurde zwar vor beinahe siebzig Jahren geschrieben, Meldungen über Schülerselbstmorde sind aber auch heute noch an der Tagesordnung. Hat sich am System seither etwas verändert?
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