Der Rechtshistoriker Carl von Savigny schulte das historische Denken der Brüder Grimm, was wohl ihr Interesse an historisch-wissenschaftlichen Betrachtungen von Volkspoesie anregte. Zusätzlich arbeiteten Wilhelm und Jacob Grimm mit dem romantischen Dichter Clemens Bretano an dessen Liedersammlung ,Des Knaben Wunderhorn', wo sie das Sammeln und Publizieren alter literarischer und volksläufiger Texte lernten. Da sie beruflich in Kassel als Bibliothekare tätig waren und sich zusätzlich in eben genannter Weise für Volkspoesie interessierten, war der Grundstein für die eigene Sammeltätigkeit gelegt. Denn bei der Untersuchung ,Des Knaben Wunderhorn' wird festgestellt, dass die Bearbeitungweise der Wunderhorn-Quellen stark der, der Grimmschen Sammelunternehmen ähnelt.
Als nun der erste Wunderhorn-Band erschienen war, forderte Bretano auf, ihm alte mündlich überlieferte Sagen und Märchen zukommen zu lassen, um damit eine Fortsetzung ,Des Knaben Wunderhorn' zu verwirklichen. Er plante, das ganze Land mit einem Sammelnetz zu überziehen, um so sein Vorhaben systematisch zu verwirklichen. Volkslieder erhielt er daraufhin reichlich, doch Sagen und Märchen nur sehr spärlich. Deshalb veröffentlichte Bretano einige Beispiele, was er sich unter Märchen und Sagen vorstellte, worauf er tatsächlich einige Texte erhielt. Die Qualität und Quantität reichte allerdings bei weitem nicht für die Wunderhorn-Fortsetzung. Bretanos folgende schicksalhafte Entscheidung schildert Heinz Rölleke:
"...weil er inzwischen Begeisterung, Begabung und Fleiss der jugendlichen Brüder Grimm kennen- und schätzengelernt hatte, beauftragte Bretano nunmehr diese, kontinuierlich für ihn zu sammeln, und zwar sowohl Lesefrüchte aus älterer Literatur als auch mündlich verbreitete Texte." 3
Dies zeigt, dass die erste Sammeltätigkeit der Brüder Grimm völlig unter dem Einfluss von Bretano stand: Er entwickelte mit ihnen die Pläne, sie durften seine umfangreiche Bibliothek benutzen und er beanspruchte die Bearbeitung und Veröffentlichung der Texte ausschliesslich für sich.
Landläufig herrscht die Meinung vor, die Brüder Grimm seien umhergereist und hätten sich von alten Weiblein Märchen erzählen lassen. Doch bereits deren eben beschriebene Art und Weise, wie sie in die Arbeit an Märchen eingeführt wurden, lässt darauf schliessen, dass dem nicht so war. Mannel, Wild und Hassenpflug, das sind die Namen, die zur Entstehung der Kinder- und Hausmärchen entscheidend beigetragen haben. Es handelt sich hierbei nämlich um junge, gebildete Frauen aus reichen Familien.
Friederike Mannel war Tochter eines Pfarrers, der gleichzeitig eine Privatschule führte. Sie sprach französisch und war literarisch sehr gebildet. Im November 1808, sie war damals 25 Jahre alt, schickte sie den Brüdern Grimm erstmals Märchentexte. 5 der späteren Kinder- und Hausmärchen stammen von ihr, teilweise selbst niedergeschrieben, teilweise aus Aufsätzen der Schüler ihres Vaters.
Dorothea Wild, eine Apothekersgattin aus Kassel, war eine Nachbarin der Brüder Grimm, als diese in Kassel wohnten. Eine ihrer Töchter wurde sogar Wilhelm Grimms Frau. Die ersten Aufzeichnungen für die ,Kinder- und Hausmärchen' entstanden nach ihren Erzählungen. Sie und die sogenannte Marburger Märchenfrau, bei ihr hatte Wilhelm Grimm das einzige Mal einen Versuch gemacht, von einer alten Frau in einem Spital Märchen zu erfahren, was jedoch misslang, waren die einzigen unter den Märchenerzählerinnen, die eine Generation älter waren als die Gebrüder Grimm selbst.
Die meisten und gewichtigsten Märchen stammen jedoch von den drei Schwestern Hassenpflug, Deren Vater Amtmann war, die Mutter entstammte eine Hugenottenfamilie. Deshalb sprachen die Schwestern Hassenpflug zu Hause nur französisch, dies erklärt auch, warum viele Märchen der Hassenpflugs stark verschiedenen französischen Märchenfassungen des 18. Jahrhunderts ähneln. Mit diesen drei jungen Damen trafen sich die Grimms seit 1808 zu einer Art literarischem Teekränzchen. So schreibt Rölleke über die Entwicklung der Märchensammlung:
"Damit war der durch Bretano ... bestimmte Ansatz entschieden verstärkt: Die jungen Damen Mannel, Wild, Hassenpflug ... erzählten gut, und ihr Repertoire bestand aus abgerundeten, sinnvollen, Obszönitäten und Grobianismen säuberlich vermeidenden, Geschichten." 4
|