Das erste bürgerliche Trauerspiel ist "Miß Sara Sampson" von Gotthold Ephraim Lessing (1755). Es ist Lessings einziges empfindsames bürgerliches Trauerspiel, alle anderen Versuche kamen über den ersten Akt nicht hinaus. "Miß Sara Sampson" war sehr erfolgreich und fand viele Nachahmer, die aber weit nicht so bedeutend sind. Es erfüllt seine Bestimmung, indem es den tugendhaften Menschen im Unglück zeigt. Sara ist die Trägerin höchster Moral, ihr Gegenspieler Marwood dagegen ist vorbürgerlich gewissenlos und egoistisch. Die innere Handlung ist eine sittliche Läuterung, in der Vergebungsszene am Schluß bezeugen alle ihre bürgerliche Moralgesinnung.
Das Modell Lessings bot seinen Zeitgenossen viele Möglichkeiten für empfindsame Prägungen. Dazu gehören die Möglichkeit zum Weinen als Ausdruck eines gerührten Herzens, wortreiche Analysen von verfeinerten moralischen Gefühlen und zarten Gewissenskonflikten und breit ausgemalte emotionale Situationen. Dadurch sind auch die Hauptpersonen meist weiblich.
Dieses Modell bewährte sich, so daß die nächsten Jahrzehnte kein Grund zu groben Änderungen bestand, vor allem, weil alles sehr variabel ist, z.B. das Maß der Schuld und das Gewicht der mildernden Umstände, die man den leidenden Hauptpersonen zubilligt. Orientierungspunkte bleiben die ganze Zeit über Tugend und Laster, oft zieht ein lehrhaftes Schlußwort Bilanz. Gewarnt wird vor der Ausartung empfindsamer Liebe zu maßloser Leidenschaftlichkeit.
Durch diese grundsätzlichen Gemeinsamkeiten sind auch Figuren, Situationen und Motive, selbst Handlungsort - häufig England - und Handlungszeit - kurz vor der von den Eltern bestimmten Heirat - meist ähnlich. Die Stücke spielen immer in der Gegenwart - Mitte und Ende des 18. Jh. - im Familienkreis, die Sprache ist bis auf wenige Ausnahmen Prosa. Absichtliche Komik, um die tragische Stimmung zu steigern, gibt es nur selten.
Das tugendhafte, aber schwache junge Mädchen im Mittelpunkt kommt in Konflikt mit den Eltern, wenn es statt dem ausgesuchten Mann einen anderen liebt. Der Vater kann dabei zwischen autoritär und zärtlich vom Autor gewählt werden, die Mutter tritt oft kaum auf. Die Konflikte sind rein materiell und nicht ständisch. Pflicht und Liebe, Gewissen und Herz geraten in Widerspruch. Es folgen Entführung, Flucht, Verstoßung, Eifersucht, Verfolgung, Rückkehr und Reue, auch Mord ist häufig. Der Liebhaber ist meist empfindsam und tugendhaft, jedoch charakterlich schwach und schwankend, manchmal auch reumütig, aber nie wirklich böse. Die Gegenspieler - Vater, Rivale oder falscher Freund - sind gefühllos, egoistisch oder tyrannisch und triumphieren nicht. Meistens wird ihnen die Chance zu Sündenbekenntnis oder Reue gegeben, auch Selbstmord ist nicht selten. Breit ausgemalte Sterbeszenen sind überhaupt sehr beliebt.
Oft bezeugt gerade im größten Unglück am Schluß ein allseitiges Verzeihen und Verstehen die bürgerliche Tugend, die gefühlvolle Familiengemeinschaft stellt sich, wenn auch dezimiert, wieder her.
VON "EMILIA GALOTTI" BIS "KABALE UND LIEBE"
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