Ein Jahr ist es her, seitdem die ersten Versuche am Menschen mit dem Mittel gemacht wurden. Im September 1909 erhielt Alt in Uchtspringe das Präparat. Zwei Ärzte wandten es zunächst an sich selbst an, um die unschädliche Wirkung darzutun. Es war eine heroische Tat, aber sie war geboten, denn sie bewies, daß man das Mittel auch beim Menschen anwenden könne. Nun erhielten Patienten der Klinik Alt, kräftige Idioten, das Mittel. Als man so die wirksame Dosis festgestellt hatte, als man mit größter Vorsicht und langsam vorwärtsschreitend erkundet hatte, wieviel und wie man injizieren sollte, ging man daran, das Mittel an frisch Erkrankten zu erproben... (Kirchhoff in: Toellner, 19).
Ein Bericht aus dem Jahre 1910; aus einer - so scheint es - grauen medizinischen Vorzeit. Ein Bericht, der uns auf eine umfassende und doch schon uralte Problematik aufmerksam machen möchte: Auf die Problematik der Forschung am Menschen. Schon zu Hippokrates' Zeiten verpflichteten sich die Ärzte, nur nach bestem Wissen und Gewissen und nur im Wohle des Patienten zu handeln, um ihn somit vor Schäden zu bewahren.
Noch heute - durch die rasanten technischen Fortschritte zusehends vorangetrieben - gehört die Forschung am Menschen zu einem der schwierigsten Probleme der modernen Medizin. Ärzte befinden sich in einem großen Gewissenskonflikt. Einerseits verpflichten sie sich alle nur möglichen diagnostischen und therapeutischen Verfahren, die zu der Genesung eines Patienten führen können, anzuwenden. Andererseits jedoch können bei neuen Verfahren, die zwar an Tieren erfolgreich angewandt wurden, bei Menschen etwaige unerwartete Nebenwirkungen nie ganz ausgeschlossen werden. Um die volle Tragweite eines solchen neuen Verfahrens abschätzen zu können, wäre auch die Überprüfung der Methode oder des Medikaments am menschlichen Lebewesen notwendig. Und somit befinden wir uns schon mitten drinnen in dem Dilemma; einem Dilemma mit dem Arzt auf der einen und dem Forscher auf der anderen Seite. Beide schließen sich gegenseitig aus und schränken sich ein. Hier verbirgt sich aber ein gewaltiger Widerspruch, denn ärztliches Handeln kann trotz allem nicht ohne wissenschaftliches Handeln sein.
Der Arzt sieht sich also dem Wohl des Patienten verpflichtet. Es wäre nur all zu unethisch von ihm, eine Therapie oder ein Medikament zu verschreiben, dessen Sicherheit und Wirksamkeit nicht vorher genau untersucht wurden. Er muß also den Patienten sowohl auf die Art und dem damit verbundenen Risiko einer neuen Therapieform oder eines Medikaments als auch auf die Häufigkeit möglicher Nebenwirkungen aufmerksam machen. Dies kann er jedoch nur, wenn der Forscher, der sich einzig und allein dem Entwicklungs- und Erkenntnisfortschritt verpflichtet sieht, vorher ausreichend Informationen und Erfahrungen bezüglich des zu erprobenden Produktes gesammelt hat. Die Wirksamkeit einer Therapie oder eines Medikaments wissenschaftlich zu prüfen, ist aber wiederum ethisch nicht immer vertretbar. Es kann dem Patienten Schaden zufügen, ihn zumindest aber physisch gefährden.
Wer entscheidet also über die Zulässigkeit der Forschung am Menschen und in weiterer Folge über alles, was heutzutage so an Eingriffen in der modernen Medizin schon möglich ist oder zumindest möglich zu sein scheint? Um die Verantwortung ethischen Handelns nicht nur an den Arzt abzugeben, haben sich vor langer Zeit mehrere Menschen verschiedener Professionen zusammengesetzt und eine Art Gremium gebildet; ein Gremium, aus dem sich, wie wir in dem nächsten Kapitel sehen werden, später noch Kommissionen entwickeln sollten.
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