"...eine destruktive Bewegung, die sich in verderblichen, gewaltsamen und unverantwortlichen Handlungen äußern wird, sobald diese Schichten mit relativer Straflosigkeit rechnen können."
Zur Unterschicht Amalriks gehörten hauptsächlich die Bauern und Arbeiter. Sie stellten bereits im zaristischen Russland und - wie oben ausgeführt - auch in der Sowjetunion die zahlenmäßig überlegenste Bevölkerungsschicht. Zum Aufbau einer Demokratie im Sinne von "Volksherrschaft" war und ist Rückhalt gerade in dieser Schicht notwendig. Amalrik, der sich selbst als \"am meisten sowjetischer Mensch\" bezeichnete, der auf eine Demokratisierung der UdSSR auf Grundlage des Rätemodells hoffte , hält das angesichts der "Verständnislosigkeit" der untersten Schichten gegenüber aufklärerischen Idealen wie Persönlichkeit und Freiheit ("für die Mehrheit gleichbedeutend mit ,Unordnung', mit der Möglichkeit, ungestraft beliebige gesellschaftsschädigende und gefährliche Taten auszuführen") für unmöglich. Positive Vorstellungen habe das Volk nur von der "Idee der ,starken Herrschaft', die recht hat, weil sie stark ist" und von Gerechtigkeit, "die in der Praxis in den Wunsch (umschlägt), daß es keinem besser gehen soll als mir`" . Innerhalb dieser wert- und ideallosen Schicht bestehe zwar durchaus ein distanziertes, fast feindliches Verhältnis zu Staat und Regime, dies allerdings nur in Form "passiver Unzufriedenheit" , "die nicht gegen das Regime als ganzes gerichtet (ist), (...) sondern gegen einzelne Bereiche." Letzteres ist in Literatur und Wissenschaft häufig dokumentiert. Der Satz "Russland ist groß und der Zar ist weit" ist zu einem geflügelten Wort geworden. In einem Staat von der Größe der ehemaligen Sowjetunion oder des zaristischen Russlands wurden "Hauptstadt" und "Regierung" für den einzelnen Bürger zu abstrakten Begriffen - präsent nur durch die Medien. Im Alltag schwanden politische und ideologische Theorien angesichts allzu naher Probleme zur Bedeutungslosigkeit. Was das Volk erstrebte, war das eigene Wohlergehen und somit eine funktionierende Wirtschaft. Der seinerzeit relativ hohe Lebensstandard, so Amalrik, "hebt diese Erregung (i.e. die passive Unzufriedenheit) nicht auf, sondern neutralisiert sie irgendwie". Wirtschaftlicher Stillstand oder Rückschritt hätte das Aufflammen von revolutionären, zerstörerischen Volksaufständen zur Folge. Durch dieses ständig immanente destruktive Potential erhält das Volk des sowjetischen Staates für Amalrik seine Bedeutung. Als bestätigendes Beispiel dieser Hypothese führt der Autor den Hungeraufruhr in Nowotscherkassk 1962 an.
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