Die Entwicklungen in der Sowjetunion riefen große Besorgnis hervor. In den vergangenen Jahrzehnten war es zwar gelungen, die Stabilität durch Abgrenzung, Befriedigung von Bedürfnissen und Kontrolle zu sichern, man konnte von Rußland aber keine große Unterstützung mehr erwarten. Die Rote Armee war unverzichtbar für die Rückendeckung des SED Regimes, und als Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn bereits Auflösungserscheinungen zeigen, wurde die Situation für die DDR kritisch. Statt Reformen führte man einfach den Prozeß der Selbstisolierung weiter. Ostdeutschland wurde zu einer Insel der scheinbaren Stabilität in einem Meer von politischem, ökonomischem und ideologischem Umbruchs. Honecker bestand ausdrücklich auf der Beibehaltung des bisherigen Kurses ohne dabei dem Modell der Sowjetunion folgen zu müssen. Kurt Hager, Mitglied des Politbüros der SED und Chefideologe der Partei, stellte in diesem Zusammenhang in einem Interview mit der Zeitschrift \"Der Stern\" vom 9. April 1987 die viel zitierte rhetorische Frage, ob man sich denn verpflichtet fühlen müsse, seinem Nachbarn zu folgen, wenn dieser beschließe, in seinem Haus die Wände neu zu tapezieren. Die DDR-Führung jedenfalls - so konnte man den Äußerungen Honeckers und Hagers entnehmen - verspürte keine Verpflichtung zu inneren Reformen. Im Gegenteil, man hielt sie für höchst überflüssig und schädlich, ja gefährlich.
Währenddessen bahnte sich Ungarn immer weiter einen Weg in die Demokratie und Unabhängigkeit. Im April und Mai 1988 kam es in Polen erneut zu Streiks in den Werften und Stahlfabriken sowie Konflikten zwischen der offiziell immer noch verbotenen Gewerkschaft \"Solidarität\" und der Regierung unter General Jaruzelski. 1989 kam es dann ganz im Sinne Gorbatschows zu Gesprächen zwischen dem Arbeiterführer Lech Walesa und der Regierung. Im Juni fanden schließlich die ersten freien Parlamentswahlen mit teilweise freier Kandidatenaufstellung statt.
In Ungarn wurde Károly Grósz, ein Verfechter der Reformen, am 22. Mail neuer Ministerpräsident. Zugleich wurde, auch dies ein Affront für alle überzeugten Kommunisten, Imre Nagy, der 1958 in einem Geheimprozeß zu Tode verurteilte und hingerichtete Führer des ungarischen Volksaufstandes 1956, exhumiert und feierlich neu bestattet. In der Tschechoslowakei konnte man ebenfalls das Fortschreiten der Reformbewegung beobachten.
1987 war es daher fraglich geworden, wie lange sich die SED noch gegen die Tendenzen zur Öffnung und Liberalisierung, die bereits im eigenen Land bemerkbar waren, wehren konnte. Ihre wachsende Nervosität verriet die DDR Führung, als die sowjetische Zeitschrift \"Sputnik\", die von vielen reformorientierten Ostdeutschen gelesen wurde, verboten wurde. Die Selbstisolierung der DDR, die auch in diesen Maßnahmen wieder zum Ausdruck kam, sowie der antireformistische Kurs Honeckers waren zwar innerhalb der SED-Führung nicht unumstritten. Doch die meisten Funktionäre zogen es vor zu schweigen, auch wenn sie vielfach insgeheim mit der offiziellen Politik ihrer Regierung nicht übereinstimmten.
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