Keiner mag Rillenreifen. Die Fahrer schimpfen, die Ingenieure klagen, und selbst Bridgestone verwünscht die gerillten Gummiwalzen. Trotzdem kehrt die Formel 1 nicht zu den Slicks zurück. FIA-Präsident Max Mosley, der Erfinder der Rillenreifen, verteidigt sein Erbe an den Sport: "Sie sind der effizienteste Weg, die Kurvengeschwindigkeiten unter Kontrolle zu halten.\"
Oberflächlich betrachtet hat Mosley Recht. Vergleicht man über die letzten zwei Jahre die Trainingsbestzeiten von Silverstone und Hockenheim, dann fällt eines sofort ins Auge: Die Rundenzeiten sind gestiegen.
Silverstone ist eine Rennstrecke, auf der die Autos mit relativ viel Anpressdruck fahren. 1997 stand Jacques Villeneuve mit dem slickbereiften Williams-Renault mit 1.21,598 Minuten auf der Pole-Position. Ein Jahr später hatten sich die Rahmenbedingungen geändert. Drei Rillen vorn und vier Rillen hinten reduzierten die Haftung. Der Trainingsschnellste Mika Häkkinen fuhr 1.23,271 Minuten, also 1,6 Sekunden langsamer als im Vorjahr. Die gleiche Zeitspanne verlor der McLaren-Pilot durch die Einführung härterer Gummimischungen und einer vierten Rille in der Lauffläche der Vorderreifen. Häkkinens Zeit in diesem Jahr: 1.24,804 Minuten. Auf Villeneuves 97er-Wert fehlen somit 3,2 Sekunden.
In Hockenheim, einer Highspeed-Strecke mit extrem wenig Abtrieb, ging der Verfall der Rundenzeiten zäher voran. Von 1997 (1.41,873 min) auf 1998 (1.41,838 min) stagnierte die Zeit des Trainingsschnellsten. In diesem Jahr blieb immerhin eine Sekunde liegen. Häkkinen pfeilte sich in 1.42,950 Minuten um den 6,8 Kilometer langen Kurs.
Ziel erreicht? Mosley sagt ja. Geschwindigkeitsmessungen und Sektorzeiten sprechen jedoch eine andere Sprache. Zugegeben: Die Rennautos wurden insgesamt langsamer. Der Trugschluss dabei: aber nur in den langsamen Passagen, wo der Grip mehr vom Reifen als von der Aerodynamik bestimmt wird. Hier trägt die Tempobremse nichts zur Sicherheit bei. Ob ein Auto mit 90 oder 110 km/h von der Strecke fliegt, macht bei dem Sicherheitsstandard moderner Formel 1-Boliden keinen Unterschied.
Dort, wo es gefährlich wird, sind die Formel 1-Renner praktisch so schnell wie eh und je. Der Verlust an Haftung über die geringere Aufstandsfläche der Reifen wird bei hohen Geschwindigkeiten durch die deutlich effizientere Aerodynamik kompensiert. Beispiel Silverstone: In Stowe Corner misst Benetton 180 km/h (1999) statt 185 km/h (1997). Überproportional sanken die Geschwindigkeiten in der langsamen Luffield-Kurve von 106 km/h (1997) auf 98 km/h (1999).
Generell wird heute mit mehr Flügel gefahren als noch vor zwei Jahren.
Auf den Geraden sind die Fahrzeuge wegen der von zwei auf 1,80 Meter verringerten Breite, der schmaleren Reifen und der um 40 PS stärkeren Motoren trotzdem schneller denn je. Beispiel Hockenheim: Der Top-speed stieg von 349,5 auf 355,7 km/h. Im zweiten Sektor, der von der ersten Schikane bis Einfahrt Motodrom reicht und drei lange Geraden beinhaltet sind die 99er-Formel 1-Autos mit 55,053 Sekunden sogar um 0,8 Sekunden schneller als ihre Vorgänger mit Slicks (55,807 Sekunden).
Beim Bremsen werden nach wie vor Verzögerungswerte von bis zu fünf g erreicht. Einerseits weil die Aerodynamik die Autos wirksamer auf die Straße presst. Andererseits, weil die Reifen hauptsächlich erst dann an Grip verlieren, wenn die Rillen quer zur Fahrtrichtung stehen. Beim Bremsen tritt das Phänomen auf, dass sich die in Längsrichtung verlaufenden Rillen durch den Aufstandsdruck zusammenziehen. Problem dabei: Das Blockieren der Räder kündigt sich für den Fahrer kaum an, was die Unfallrate erhöht .
Michael Schumachers Unfall ist das beste Beispiel dafür, dass Mosleys Theorie nicht funktioniert. Der Bremsdefekt bahnte sich bei 306 km/h an. Villeneuve wurde 1997 mit Slicks an der gleichen Stelle mit 300 km/h gestoppt. Also langsamer!
Jean Alesi rutschte im Training von Magny-Cours mit 206 km/h quer von der Bahn. Weil die Rillenreifen kaum verzögerten, flog der Sauber fast ungebremst in den Reifenstapel. Und da kommt Bernie Ecclestones Argument zum Tragen: "Weniger Haftung bedeutet mehr Unfälle und weniger Verzögerung, wenn sich das Auto dreht.\" Die Statistik beweist, dass es noch nie so viele Dreher und Unfälle gab wie in diesem Jahr. Williams-Technikchef Patrick Head weiß, warum: "Die heutigen Fahrzeuge bewegen sich in einem schmalen Fenster. Wenn das Heck über ein bestimmtes Maß ausschwenkt, nützen alle Korrekturen am Lenkrad nichts mehr. Dreher, die früher noch abgefangen wurden, enden jetzt unweigerlich im Kiesbett.\"
Auf den Hochgeschwindigkeitsstrecken Hockenheim und Monza werden die Reifen zum Risikofaktor. Dort, wo mit Mini-Flügeln operiert wird, fehlt neben dem mechanischen Grip auch noch der aerodynamische Abtrieb. Die schwammige Konstruktion der Reifen und die Rillen verschlechtern die Seitenführung selbst auf den Geraden. David Coulthard: "Wenn ich eine Hand vom Lenkrad nehme, um im Cockpit etwas einzustellen, versetzt das Auto um zwei Meter.\" Fällt der Reifendruck unter 17,5 PSI (1,21 bar), kann sich die Lauffläche von der Karkasse lösen. Rillenreifen reagieren viel kritischer auf Überhitzung.
Die Fahrer haben bereits mehrere Kampagnen zur Rückkehr von Slicks gestartet und sind jedes Mal gescheitert. Weil sie die falschen Argumente vortragen. Wer
fehlenden Fahrspaß ins Feld führt, beißt bei Mosley auf Granit. Auch das Überholproblem hat mit Rillenreifen wenig zu tun. Überholen ist aus aerodynamischen Gründen ein Gewaltakt. Wer sich an ein vorausfahrendes Auto ansaugen will, braucht zwei Dinge: Aerodynamisch ineffiziente, aber stabile Autos. So wie in der CART-Serie.
In der Formel 1 ist das Gegenteil der Fall. Die Autos sind extrem effizient und spenden deshalb kaum Windschatten. Weil sie die kleinste Änderung in der Anströmung der Luft aus dem Gleichgewicht bringt, sind die modernen Formel 1-Renner aerodynamisch instabil.
Mosleys Votum für Rillenreifen basiert neben dem Sicherheitsargument auf einem weiteren Irrglauben. Der FIA-Präsident will die Formel 1 näher an Straßenautos heranrücken. Genau das Gegenteil sollte der Fall sein. Die Faszination der Formel 1 besteht darin, dass die Rennwagen ultimative Fahrmaschinen sind. Möglichst weit weg vom Pkw. Wozu gibt es Tourenwagen? Für Fans, die Rennen mit Pkw-ähnlichen Autos sehen wollen. Ecclestone fordert deshalb: "Zurück zu den Slicks. Das Experiment Rillenreifen hat sich nicht ausgezahlt.\"
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