Wie im vorigen Kapitel dargelegt, hatten noch keine Angst vor der Thematisierung der Sachenproblematik im soziologischen Kontext Autoren wie: MARX, DURKHEIM, WEBER, SCHMALENBACH oder v.STEIN. Die Ausgrenzung von "sachhaften Gelegenheiten" (S.31), ihre "Exkommunikation aus dem systematischen Konzept [erscheint] schlicht ... als die Folge formaler und/oder methodologischer Purismen" (S.13). LINDE nennt hier insbesondere die nach MARX einsetzende Psychologisierung des Soziologiekonzepts einerseits und dessen Formalisierung andererseits als Ursachen dieses Ausfalls der Kategorie Sache oder Sachverhältnis für den weiteren Werdegang der Soziologietheorie.
Einen solchen expliziten Ausschluss der Sachbezüge lastet LINDE z.B. auch v.WIESE an, der in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in seiner allgemeinen Soziologie keine Verwendung für den Sachbegriff fand, ihm aber in speziellen Soziologien durchaus einen Stellenwert einräumte. LINDE disqualifiziert eine solche "Vorgehensweise des teils-teils" denn auch als "irrelevante Abstraktion" (S.79) .
Ein weiterer Autor, den der Sachblindheitsvorwurf LINDEs trifft, ist der in Kapitel 1 erwähnte C.P. LOOMIS, der ja -wie erwähnt- dem eher psychologistischen Ansatz von TÖNNIES nicht fern stand. Für solche kognitive Programme versperrt sich natürlich der Sachenbegriff einer adäquaten Behandlung, wenn man ihm (der ja somit eigentlich eine "Residualkategorie" ist) nicht ein Hintertürchen öffnete, durch das er in das soziale System -als Gegenstand der Soziologie- wieder eintreten kann. Dieses Hintertürchen ist beschriftet mit: "verwendete Mittel, um im sozialen System Ziele (Zwecke) zu erreichen" . So kommentiert LINDE abschliessend den amerikanischen Soziologen: "Eine eigene Bedeutung komme den Sachen eigentlich nur bei der vergleichenden Analyse ökonomischer und sozialer Entwicklungsprozesse zu, und zwar vermittelt durch ihre spezifische Spiegelung im Werthorizont derer, die sie (a) besitzen, (b) kontrollieren oder (c) gebrauchen"(S.23).
Als aktuelles Beispiel für die Folgen der Sachabstinenz in soziologischen Theorien dient LINDE die Gemeindesoziologie von René KÖNIG und ihr zugeordnetes Anwendungsfeld, die Raumplanungspraxis. Da es bei letzterer "...konkret allein um die Lozierung der Ausstattung eines kleineren oder größeren Areals mit Sachen (Arbeitsstätten, Behausungen, Verkehrswege und andere Kommunikationsnetze usw.) geht, wird sich notwendig jede Soziologie als unzuständig erklären müssen, die sich damit begnügt, Sachen als vergegenständlichtes, totes Substrat gesellschaftlicher Zusammenhänge hinzunehmen und bestenfalls als Umweltdaten ihrer interaktionistischen Systementwürfe in Ansatz zu bringen..." (S.19). Die Verschränkung von methodologischem Ansatz mit konkreter Forschungsarbeit zeigt sich einmal mehr bei der Festlegung des Forschungsgegenstandes Gemeinde. Für KÖNIG scheint der systemtheoretische Ansatz LOOMISscher Provenience bindend zu sein, denn auf diesen bezieht er sich explizit, wenn er soziale Systeme als "Beziehungen und Verbindungen von Personen" bezeichnet und diese Beziehungen überdies bewusstseinstheoretisch fundiert: "Für uns erscheint also die Gemeinde als ein ,soziales System', d.h. als ein Zusammenhang, der sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass alle Menschen, die in ihn eingeschlossen sind, ein Bewusstsein dieses Zusammenhangs sowie seiner Grenzen und seiner Verschiedenheit von anderen ähnlichen Zusammenhängen haben" . Es sind die spezifisch sozialen Momente , deren Zusammenwirken das "Überleben der Gemeinde in der Zeit" garantiert und ihre "sozial-kulturelle Identität" bestimmt. LINDE qualifiziert dieses Phänomen des Zusammenhangbewusstseins als Einheits¬bewusstsein, das im übrigen charakteristisch sei für das social-system-Konzept, und das eine "fundamentale Mentalisierung und Psychologisierung der Interaktionsphänomene" (S.22) darstelle, insbesondere wenn damit einhergehe sowohl die Extraktion dieser Phänomene aus der "Praxis der menschlichen Daseinssicherung und Lebensführung" (S.22) als auch deren systematische Formalisierung. LINDE kritisiert die von KÖNIG unterstellte Einheit der Interakteure als "Verkürzung der Soziologie der Gemeinde zur Sozialpsychologie des informell-nachbarschaftlichen Durch-, Gegen- und Miteinander von Einwohnern, auf die mehr oder weniger ephemeren Beziehungs- und Verhaltensmuster in face-to-face-relations" (S.25) und bezeichnet sie schlichtweg als "Einheitsphantasmagorie" (S.26).
|