Die wichtigste Aufgabe der Erziehung ist es, dem Kind dabei zu helfen, einen Sinn im Leben zu finden. Ein Kind muß dazu lernen, sich und seine Umwelt zu begreifen und zu akzeptieren. Dabei können ihm Märchen als Hilfe dienen. In den ersten Kindheitsjahren strömt eine Unmenge an unbekannten und unverständlichen Sinneswahrnehmungen auf das Kind ein. Es verfügt in dieser Zeit aber noch nicht über die Fähigkeit, diese Wahrnehmungen rational erklären und in Beziehung zu einander setzen zu können. Nach Auffassung des Kindes beherrscht Chaos sein Inneres und seine Außenwelt. Phantasie hilft ihm Ordnung in dieses Chaos zu bringen, wenn es keine rationalen Erklärungen zur Hand hat. Märchen bieten ihm hierbei eine wichtige Hilfe. Diese phantastischen Geschichten ähneln sehr den von Kindern herangezogen Erklärungsversuchen der eigenen Erlebniswelt. Wie sieht aber nun diese Erlebniswelt des Kindes aus?
Um die Erlebniswelt des Kindes verstehen zu können, muß man sich vor Augen führen, daß Kinder. "anders denken" als Erwachsene. Sie sind viel mehr vom Lustprinzip bestimmt. Sie nehmen ihre eigenen Bedürfnisse (z.B. Ernährung, Aufmerksamkeit, Zuwendung) übersteigert wahr. In dem Moment indem ein Bedürfnis wahrgenommen wird, bestimmt es das Denken der Kinder völlig. Hier kommt der primäre Charakter der kindlichen Wahrnehmung zum Ausdruck. Kinder denken animistisch, d.h. sie können nicht zwischen belebten und unbelebten Dingen unterscheiden. Außerdem nimmt ein Kind sich und seine Umwelt als Einheit wahr, d.h. es kann keine klare Trennung zwischen sich und seiner Umwelt erkennen. Diese Unterschiede zur Erwachsenenwahrnehmung werden zudem dadurch verstärkt, daß Kinder sehr stark polarisieren. Ihnen fehlt der Erfahrungsschatz, über den Erwachsenen verfügen. Deshalb mangelt es ihnen an Vergleichswerten für das neu Wahrgenommene. Es zeigt sich hier wieder, daß der primäre Charakter ihrer Wahrnehmung noch nicht verdorben ist. Dies hat zur Folge, daß sie sehr extrem empfinden. Entweder ist etwas angenehm oder unangenehm. Alle die hier nur angedeuteten Wahrnehmungsunterschiede haben zur Folge, daß Kinder mit ständigen Spannungsgefühlen fertig werden müssen. Dies gelingt ihnen, indem sie diese Spannungsgefühle in phantastische Bilder übersetzen. Genau an diesem Punkt setzen nun Märchen an.
Märchen und Kinder sprechen die gleiche Sprache, d.h. die von Märchen verwendeten Bildern gleichen denen, die Kinder zur Erklärung ihrer Wirklichkeit heranziehen. Somit ist es Märchen möglich, Kindern Lösungsansätze für ihre Probleme zu bieten. Darin besteht nun gerade ihr großer Vorteil. In Geschichten, die für Erwachsene phantastisch klingen, greifen sie Probleme oder Gefahren auf, die sich für Kinder in ihrem täglichen Leben stellen. Sie geben den Kindern Bilder für die von ihnen unterbewußt wahrgenommenen Probleme. Mit diesen Bildern können Kinder dann einfacher umgehen, als mit ihren Unterbewußten Ängsten. Hilfreich sind sie für die Entwicklung der Kinder aber eben gerade, weil sie die Probleme und Gefahren nicht nur ansprechen, sondern den Kindern Lösungsmöglichkeiten aufzeigen, auf die sie selbst nicht gekommen wären. Sie helfen Kindern ihre eigenen unbewußten Ängste zu erkennen und mit ihnen umzugehen
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