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philosophie artikel (Interpretation und charakterisierung)

Faust

Illustrationen zu goethes faust - (alle blätter sind der anlage in textgemäßer reihenfolge beigelegt)



Goethe sah im September 1810 in Dresden die ersten Entwürfe Retzschs zu seinem 1808 erschienen Faust. Er hat sie dann Zeit seines Lebens allen anderen Illustrationen vorgezogen und die im Druck erschienenen Ausgaben mehrfach verschenkt.
Noch am 25. November 1805 hatte Goethe an seinen Verleger Cotta geschrieben: ,,Den ,Faust" dächte ich, gäben wir ohne Holzschnitte und Bildwerk. Es ist so schwer, dass etwas geleistet werde, was den Sinn und dem Tone nach zu einem Gedicht passt. Kupfer und Poesie parodieren sich gewöhnlich wechselweise. Ich denke, der Hexenmeister soll sich allein durchhelfen." Nun aber veranlasste er denselben Verleger, die Zeichnungen von Retzsch zu veröffentlichen. 1816 erschien also eine Folge von 26 Blatt als Umriss-radierungen, der bald weitere Auflagen folgten, darunter 1834 eine ,,vom Verfasser selbst retuschierte und um einige neue Platten vermehrte" Ausgabe, die 1836 um elf Blatt mit Illustrationen zum zweiten Teil des Faust erweitert wurde. Schon 1820 erschien in London eine englische Ausgabe, 1825 in zweiter Auflage. Auch in Paris erschienen nach 1823 zwei französische Ausgaben.
Goethes Vorliebe ist wie folgt zu erklären. Retzschs Umrisse sind von einer Strenge und Sparsamkeit, die sich nur mit der Kunst des wenig älteren Engländers John Flaxman vergleichen läßt, der in seinen Zeichnungen auch auf jede Betonung von Licht und Schatten verzichtete. Nur die Spannung der Linie gibt den Figuren ihr Leben und ihre Intensität.
Obwohl Retzsch vom zweiten Teil des Faust zunächst nichts wissen konnte, hat er Goethes Ideal ganz klar erkannt und Gretchen nicht nur als anmutiges und zärtliches Kleinstadtmädchen gezeichnet, sondern mit ihrer Lieblichkeit die klassische und strenge Schönheit der Helena vereinigt. Das drückt sich nicht nur im Profil des Gesichts und in der Frisur, sondern z. B. auch im Faltenfall der Kleidung aus.
Diese Verschmelzung des ,,Romantischen" mit dem ,,Klassischen" musste Goethe faszinieren. Er stand darum den Faustillustrationen des damals jungen und später berühmten Peter Cornelius (s.o.) eher distanziert gegenüber, die ihm zu einseitig mittelalterlich erschienen. Er sah in ihnen Zeugnisse neudeutscher, religiös-patriotischer Kunst der Romantiker, die seinem klassischen Ideal nicht entspra¬chen.
Schon vorher hatte Goethe im 2. Heft 1817 der Zeitschrift Über Kunst und Altertum gerühmt, dass Retzschs Zeichnungen den Charakter der Dichtung mit einer gewissen Stetigkeit durch die ganze Reihe fortführen.
Retzschs Strich ist auch in den kleinsten Details noch präzise. Er übersetzt die dich-terischen Vorlage in vollkommener ideeller Harmonie zur Klarheit und Transparenz des reinen Umrisses. Diese Kühle und das Vermeiden irgendwelcher ,,Stimmungen", die sachliche Charakterisierung der Personen, die Fähigkeit, den Raum nicht nur mit Personen und Staffage, sondern auch mit geistiger Spannung zu füllen, sichern Retzsch seinen - wenn auch insgesamt bescheidenen - Platz in der Kunstgeschichte.
Noch ein anderes Moment aber ist bei der Beurteilung der Retzsch\'schen Illustrationen wichtig, nämlich die Vorwegnahme der Bühneninszenierung. Wenn Goethe zunächst selbst wohl der Meinung war, dass der Sinn seiner Dichtung sich nicht unbedingt auf der Bühne erfüllen müsse, hat er doch im Prinzip eine Theaterdarstellung nicht abgelehnt, und in späterer Zeit sich auch im Gespräch mit Eckermann (s.o.) mehrfach zu Detailfragen möglicher Inszenierungen geäußert. Und sicher gibt ein Brief Eckermanns vom 3. Februar 1829 Goethes Meinung wieder: ,,Der Darstellung des ,Faust\' kommt es sehr zugute, dass die bildende Kunst dem Theater vorgearbeitet hat. . . Die [Umrisse] von Retzsch sind vielleicht das Edelste und Sicherste, woran man sich zu halten hatte ..." Das betrifft nicht nur Haltung, Geste und Physiognomie der einzelnen Personen, sondern auch das Arrangement der Ausstattung und die bühnenwirksame Stellung der Akteure. Interessant z.B., dass Gretchen in der Szene von Valentins Tod unter die Statisten zurücktritt und
auch in der Szene mit dem Bösen Geist im Dom unter den anderen Teilnehmern des Hochamtes nur als eine von vielen erscheint. So ist jedes einzelne Blatt nicht nur lite-rarische Illustration, sondern ist theatermäßig inszeniert.
Zwar könnte man darüber streiten, ob Goethe den Faust in einer bestimmbaren historischen Epoche angesiedelt hat, - im zweiten Teil sind Raum und Zeit ohnehin aufgehoben - die Assoziationen des Textes aber zu der Enge einer mittelalterlichen deutschen Stadt sind jedoch offensichtlich: Kleinstädtische und kleinbürgerliche Enge des Denkens und der moralischen Anschauungen - insbesondere verkörpert in der Gestalt des Valentin - sind es ja gerade, die Gretchens Geschichte erst zur Tragödie werden lassen. Retzsch hat das auch so gesehen und andeutungsweise in Architektur und Kleidung die Atmosphäre einer alten deutschen Stadt hergestellt, ohne diese Tendenz zu übertreiben, weil es sich ja nicht um ein historisches Schauspiel handelt. Ans Theater aber hat er auf alle Fälle gedacht.
Retzsch trifft die technischen Möglichkeiten der Bühne. Kennzeichnend z.B., dass bei ihm die zum Raume gehörenden Details in Fausts Studierzimmer oder in Gretchens Kammer auf den verschiedenen Blättern vollkommen gleich bleiben. Andererseits zeigen seine Zeichnungen der Kammer Gretchens und des Zimmers der Frau Marthe eine Bühnenausstattung, die zu seiner Zeit noch nicht gebräuchlich war, nämlich die geschlossene Zimmerdekoration. An Stelle der sonst auf dem Theater üblichen offenen Kulissen und der Soffitten benutzt er hier drei Wände, die oben mit einem Plafond abgeschlossen werden. Diese Idee übernahm dann Schinkel für seine Ausstattung der ersten Aufführung des Faust überhaupt, die auf Initiative des in Berlin lebenden polnischen Fürsten Anton Heinrich Radziwill, der eine Faust-Musik komponiert hatte, veranstaltet wurde. Dabei wurden auch die Versatzstücke plastisch dargestellt und nicht mehr einfach nur auf die Kulisse gemalt.

Die in England und Frankreich veröffentlichten Nachstiche von Retzschs Illustrationen hatten auch in diesen Ländern sofort das Interesse an Goethes Dichtung geweckt. Es erschienen Übersetzungen des Faust, und 1825 bzw. 1828 kam es zu - wenn auch verballhornten - Aufführungen in London und Paris.

 
 

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