Elisabeth wird umworben von einer französischen Brautwerbung. Dies berührt
natürlich auch die Interessen Marias, die im Falle einer Kinderlosigkeit
Elisabeths sofort nach deren Tode Thronfolgerin werden würde und damit das
katholische Geschlecht der Stuarts. Ihr widerstrebt jedoch eine Verbindung mit
dem Herzog von Anjou; sie will ihre Jungfräulichkeit bewahren, begründet dies
mit dem Dienst am Volke. Die wahren Gründe liegen jedoch in der Bewahrung ihrer
Macht und der Günstlingswirtschaft, für die Leicester stellvertretend erscheint.
Betont wird zudem die extreme Eitelkeit Elisabeths, die für den weiteren Gang
der Handlung noch an Wichtigkeit gewinnt.
Die \\\"Staatsratsszene\\\" macht die Positionen der Berater Elisabeths deutlich:
Aus Burleigh spricht die überpersönliche Staatsräson. Er stelle die Stimme des
Volkes in den Vordergrund und ist somit für die Vollstreckung des Urteils.
Sowohl Shrewsbury als auch Leicester versuchen Elisabeth zu bewegen, das
Todesurteil nicht zu unterschreiben, wenn auch aus anderen Motiven. Shrewsbury
entwickelt die Rechtswidrigkeit des Urteils, wie wir sie bereits aus dem
Streitgespräch Burleigh-Maria kennen. Zudem appelliert er auch an die Milde und
beruft sich auf die gnadenvolle Entscheidung der Königin. Aber zu einer freien
Entscheidung ist Elisabeth nicht fähig.
Leicester, der aus rein persönlichen Gründen argumentiert, sucht Marias
Gefährlichkeit zu verharmlosen und Elisabeths Stellung schmeichlerisch zu
erhöhen. Er versucht Elisabeth zu einer Begegnung mit Maria zu bewegen. Dies hat
außer persönlichen vor allem rechtliche Gründe: Nach altem englischem Recht kann
ein zum Tode verurteilter Verbrecher nicht mehr hingerichtet werden, wenn er das
Antlitz des Königs gesehen hat. Darum ist es im Sinne Burleighs, die Begegnung
zu verhindern. Elisabeths heuchlerischer Charakter kommt zum Ausdruck, als sie
um Marias Schicksal Tränen vergießt, Mortimer in der folgenden Szene jedoch zu
einem Meuchelmord zu veranlassen sucht.
Im folgenden gelangt das Spiel der Täuschung, das mit dem Auftauchen Mortimers
im 4. Auftritt bereits einsetzte, zu seinem Höhepunkt. Mortimer, der sich Marias
Rettung verschrieben hat, läßt sich von Elisabeth zum Meuchelmord drängen; er,
der Maria begehrt, gewinnt die Gunst Elisabeths. Während sich die Heuchlerin
enthüllt, wird sie selbst von einem Heuchler hintergangen. Diese Szene endet in
einem Monolog Mortimers, in dem er Elisabeth entlarvt und seine Leidenschaft zu
Maria zum Ausdruck bringt. Mortimer ist ein typischer Vertreter der jungen
Helden Schillers.
Erst als der ehrliche Sir Paulet wieder in Erscheinung tritt, gewinnen wir
wieder festen Boden unter den Füßen, allerdings nicht mehr als ein Inselchen in
diesem Meer von Heuchelei und Laster. Der nächste Auftritt bringt die beiden
\\\"Falschspieler\\\" Mortimer und Leicester zusammen und charakterisiert sie
ausführlich. Während Leicester sich immer noch abwartend zurückhält und Maria
nur retten will, um ihre Person für sich \\\"gefangen zu nehmen\\\", bricht aus
Mortimer der ungebändigte Drang aus, der stürmische Eifer, wohl auch, um
Leicester zuvor zu kommen.
Zum Schluß des Aufzuges wird die Begegnung Elisabeth-Maria von Leicester, in
listiger Weise auf Elisabeths Eitelkeit und Neugier zielend, vorbereitet.
Hiermit wird der Grundstein für die wichtigste Szene des Dramas gelegt.
\\\"Was von Maria als freie Tat des Großmuts erfleht worden war, die Zusammenkunft
der Königinnen, wird gewährt in geschickt genutzter Laune, um den Triumph
weiblicher Eitelkeit und Rachsucht zu genießen, um dem Geliebten eine
vermeintliche Kränkung zu lindern. So tut sich, um Elisabeth bewegt, die ganze
Welt der Mächtigen vor uns auf in ihrem allzu wirklichen Spiele. Und dabei
handelt es sich doch um Leben und Tod\\\" (Eugen Kühnemann).
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