Vorwort zu den Annales (Übersetzung): /
Die Stadt Rom regierten am Anfang Könige, Freiheit und Konsulat führte Lucius Brutus ein. Diktaturen wurden auf Zeit übernommen; weder dauerte die Amtsgewalt der Decemviren mehr als 2 Jahre, noch das konsularische Recht der Militärtribunen lange.
Weder Cinnas, noch Sullas Gewaltherrschaft waren von Dauer; und die Macht des Pompeius und des Crassus ging schnell an Cäsar, die Waffengewalt Antons und des Lepidus an Augustus über, der alles vom Bürgerkrieg Erschöpfte unter/mit dem Titel Prinzeps unter sein Kommando nahm.
Aber des alten römischen Volkes gute bzw. schlechte Zeiten wurden von berühmten Schriftstellern berichtet, auch für die Beschreibung der Zeiten des Augustus fehlte es keineswegs an glänzenden Talenten (bis sie durch abschreckende Kriecherei abgeschreckt wurden):
Des Tiberius und Caius, ferner des Claudius sowie Neros Geschichte ist zu ihren Lebzeiten ob Furcht falsch, nachdem sie gestorben waren mit frischem Hass, verfasst worden.
Von da mein Entschluss nur wenig über Augustus und zwar das Letztere zu berichten, dann des Tiberius Prinzipat und den Rest, ohne Hass und Zuneigung, deren Gründe mir fern liegen.
Interpretation:
...regierten am Anfang Könige alleinige Königsherrschaft bedeutet für Tacitus Sklaverei
...Freiheit und Konsulat Republik = Freiheit
dictator = Sonderkommando für 6 Monate in kritischer Lage, vom Konsul ernannt; erst Sulla und dann Caesar (dictator perpetuus = Diktator/Herrscher auf Lebenszeit) machen die Dictatura zum Instrument einer Alleinherrschaft.
Mit dem für Spezialaufgaben und Krisensituationen geschaffenen Amt der Diktatur wurde der zentrale republikanische Grundsatz, hohe politische Ämter doppelt und nur auf die Dauer eines Jahres zu besetzen, durchbrochen. Der Diktator behielt sein Amt daher nur so lange, als es die Sachlage erforderte. Die langfristigen Diktaturen des 1.Jhdts. v. Chr. (Sulla, Caesar) sind Vorboten für den Verfall der Republik.
Die Decemviren waren 451/50 v. Chr. Zur Kodifizierung des Gewohnheitsrechts (Zwölftafelgesetz älteste römische Rechtssammlung) mit Sondervollmachten ausgestattet. Dass sie ihr Amt im Jahr 449 v. Chr. fortführten, war gesetzwidrig.
. potestas: Amtsgewalt eines römischen Magistrats
. imperium: Kommandogewalt eines Feldherrn (consul, praetor, proconsul, propraetor, imperator = Kaiser)
. potentia: Macht aufgrund von Abstammung, Reichtum, eigenen Fähigkeiten
. vis: Brachialgewalt
. dominatio: Herrschaft des dominus über servi
. arma, -orum: Waffengewalt
. principatus, -us: Vorrangstellung (ohne materielle Macht)
Aus dem 1. Triumvirat (Caesar, Pompeius, Crassus; 59 v. Chr.) ging Caesar, aus dem 2. (Marcus Antonius, Octavian, Lepidus; 43 v. Chr.) Augustus als alleiniger Machthaber hervor.
"Princeps" war schon in der Republik ein geläufiger, wenn auch inoffizieller Titel, v. a. für den ranghöchsten Senator. Indem Augustus ihn für sich in Anspruch nahm, wahrte er - wenn auch nur der äußeren Form nach - die republikanische Staatsform.
Tacitus interessiert an der Geschichte der römischen Republik nur Dauer und der Wechsel von Freiheit und Alleinherrschaft.
Im Proömium zu den Annalen geht Tacitus nicht sofort auf das Thema ein, sondern leitet dieses aus einer kritischen Skizze der inneren Entwicklung Roms und der damit verbundenen Geschichtsschreibung ab.
Tacitus gibt im Vorwort zu den Annalen zu erkennen, dass sein eigentliches Thema nicht die einzelnen Kaiser, sondern der römische Staat im Wandel der Zeiten und Regierungsformen ist.
Auf der einen Seite des Vorworts zeigt Tacitus das Wechselspiel der politischen Macht zwischen dominatio und libertas seit der Königszeit: Zunächst der Gewalt eines Monarchen unterworfen, gewann Rom durch Brutus die politische Freiheit, die es mit Ausnahme zeitweiliger Unterbrechungen lange behauptete, bis diktatorische Machthaber immer häufiger wurden. Die (Rück-)Entwicklung zur Alleinherrschaft zeichnete sich ab, aber erst Augusus brachte die entscheidenden Wende, indem er alle Macht so konsequent an sich zog, dass von der republikanischen Freiheit nur noch die Form übrig blieb.
Auf der anderen Seite seines Vorwortes skizziert Tacitus die Chancen und Leistungen der römischen Geschichtsschreibung. Tacitus betrachtet den Verfall der Geschichtsschreibung als einen allmählichen Prozess im Laufe der augusteischen Zeit.
In der Republik in Blüte stehend brachte sie unter Augustus noch Bedeutendes hervor, geriet aber im Laufe von dessen Regierung allmählich in Verfall ("Druck von oben" kommt nicht zur Sprache, ist aber gemeint). Unter den folgenden Kaisern wurden zeitgeschichtliche Ereignisse von den Historikern entweder aus Angst beschönigt oder aus Hass feindselig verzerrt. Daher will Tacitus sein Geschichtswerk mit der letzten Phase der augusteischen Zeit beginnen, um dann eine objektive Darstellung von der Regierung des Tiberius und der folgenden Kaiser zu geben.
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