Die Julikrise war jedoch nur der letzte Funke gewesen, der den seit
längerer Zeit schwelenden Konflikt in Europa zur Explosion gebracht hatte.
Die eigentlichen Ursachen des Krieges liegen tiefer und reichen zurück ins
ausgehende 19. Jahrhundert mit seinen imperialistischen Spannungen
zwischen den europäischen Mächten, mit den sich damals allmählich
formierenden starren Bündnissystemen, mit dem forcierten Wettrüsten
(insbesondere zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich), mit der
Dominanz von Chauvinismus und Militarismus und mit dem schonungslosen
Konkurrenzkampf der Industrienationen um Marktanteile und Einflusssphären
auf der ganzen Welt. So gab es im Vorfeld des 1. Weltkrieges immer wieder
Krisen und Interessengegensätze zwischen den Großmächten, die nicht selten
an den Rand eines Krieges führten und eine spannungsgeladene Atmosphäre
über Europa schufen.
Das Deutsche Reich, die "verspätete Nation\", wurde erst 1871 als letzter
der europäischen Nationalstaaten gegründet. Es entwickelte sich schnell
zum zweitgrößten Industriestaat der Erde.
Aufgrund des Vorsprungs der übrigen Mächte in der Kolonialpolitik strebte
es ab etwa 1890 ebenfalls intensiv nach einem "Platz an der Sonne\" (also
nach Kolonien in Übersee) und dem Status einer Weltmacht. Das oft
kriegerische und anmaßende Auftreten Kaiser Wilhelms II. verstimmte vor
allem Frankreich und Russland so nachhaltig, dass diese bereits 1894 ein
Defensivbündnis gegen Deutschland schlossen.
Damit war jene Zangenkonstellation eingetreten (Deutschland, zwischen
Frankreich und Russland), die Bismarck - dem die Gefahr der ungünstigen
geographischen Mittellage Deutschlands stets bewusst war - immer hatte
verhindern wollen. Als sich das Deutsche Reich mit seinem Ausbau der
Kriegsflotte zusätzlich noch die Feindschaft der traditionellen Seemacht
England zuzog, war es endgültig isoliert.
In Frankreich beherrschte seit der Niederlage im Deutsch-Französischen
Krieg von 1870/71 ein nie überwundenes Revanchedenken die Politik, die
sich weigerte, den Status quo in Europa hinzunehmen (besonders in der
Elsass-Lothringen-Frage), und stets auf eine Schwächung des deutschen
Rivalen hinzielte.
Im Verhältnis zwischen Österreich-Ungarn und Russland prallte das
Interesse eines Vielvölkerstaates mit der Idee des Panslawismus zusammen:
Beides machtpolitische Konzepte, um den jeweiligen Einfluss auf dem Balkan
(Bergkette) zu vergrößern.
Großbritannien wiederum war daran interessiert, den deutschen Anspruch auf
Weltgeltung einzudämmen; ein Sieg über das Deutsche Reich in einem Krieg
war geeignet, endgültig die Gefahr einer mit England rivalisierenden
Kriegsflotte zu bannen.
Es entstand der Glaube, die bestehenden Spannungen in Europa ließen sich
nur noch durch einen militärischen Konflikt lösen.
Gleichwohl gelang es allen Regierungen, ihre Völker von der eigenen
Unschuld am Kriegsausbruch zu überzeugen: Serbien wies auf seine
Kooperationsbereitschaft bei der Erfüllung des Ultimatums hin,
Österreich-Ungarn warf Serbien panslawistische Umtriebe vor, die die
Existenz des Habsburgerreiches gefährdeten; Russland erklärte, es habe
nicht zulassen können, dass das slawische Brudervolk der Serben
angegriffen und zu einem abhängigen Staat herabgedrückt werde. Deutschland
warf Frankreich Revanchegelüste, England wirtschaftlichen Konkurrenzneid
und Russland Kriegstreiberei vor (russische Gesamtmobilmachung).
Frankreich und Großbritannien bezichtigten Deutschland eines aggressiven
Hegemoniestrebens über Europa, welches sich während der Marokkokrisen
1905/06 und 1911, in der bosnischen Annexionskrise von 1908, der Julikrise
sowie den Kriegserklärungen an Russland und Frankreich sowie der
völkerrechtswidrigen Neutralitätsverletzung Belgiens überdeutlich gezeigt
habe.
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