In der Neujahrsnacht, während im fernen Mexiko-Stadt Carlos Salinas das Inkrafttreten des mit den USA und Kanada abgeschlossenen Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) feierte, besetzten indianische Kämpfer der Guerillabewegung Zapatistische Nationale Befreiungsarmee (EZLN) unter Führung ihres Sprechers "Subcommandante Marcos\" fünf Städte in Chiapas. Sie forderten von der Regierung Land und Brot, Schulen und Spitäler, politische Reformen und ein Ende der Diskriminierung der Indios. Der Aufstand der Zapatisten, der keineswegs spontan ausbrach, sondern schon lange geplant war, zerstörte am Tag des NAFTA-Beitritts Mexikos mit einem Schlag das von der damaligen Regierung gern verbreitete Bild eines Landes auf dem schnellen Weg von der "Dritten Welt\" in die "Erste Welt\".
Stattdessen lenkte er den Blick der Weltöffentlichkeit auf den Blick der Weltöffentlichkeit auf die Not der indianischen Ureinwohner in Mexiko. In Chiapas sind sie seit Jahrhunderten von der weißen Oberschicht diskriminiert worden.
Die mexikanische Regierung hatte die Absicht, am 1. Januar 1994 ihren Eintritt in den Kreis der Länder der \"Ersten Welt\" zu feiern. Das haben die Zapatistas mit einem Paukenschlag verhindert. Das Freihandelsabkommen Mexikos mit den USA und Kanada stellte vor allem für die auf Land angewiesenen Campesinos und Indígenas katastrophale Auswirkungen in Aussicht. Die Ursache für die geringe Produktivität und \"Rückständigkeit\" der mexikanischen Landwirtschaft hatte die Regierung Salinas in dem ejido ausgemacht, den die mexikanische Revolution 1920 unter den Schutz der Verfassung gestellt hatte. Der ejido bezeichnet Staats-Land, das landlosen Bauern zur kollektiven, unbefristeten Nutzung übergeben wird. Dieses Land sollte stets Eigentum des Staates und somit unverkäuflich bleiben. Daher wurde das ejido-System zu einem Hindernis für flächenhungrige agroindustrielle Betriebe und die \"Modernisierung\" der Landwirtschaft in Richtung Exportproduktion. Die Regierung änderte also die Verfassung und erklärte die Landverteilung für beendet. Das bedeutete für zahllose Bauern- und Indígena-Familien die Vernichtung ihrer Lebensgrundlagen. Außerdem kündigte es das Selbstverständnis der nachrevolutionären mexikanischen Gesellschaft auf, das den Schutz der Bauern als wichtige Säule der Gesellschaft zum zentralen Bestandteil hatte.
Die EZLN trat als lokale Bauern- und Indígenabewegung an die Öffentlichkeit und bezog ihre enorme Stärke und Legitimation aus ihrer Basisverankerung. Die von ihr selbst genannten Gründe für den Aufstand war leicht nachvollziehbar.
Das Selbstverständnis der EZLN geht aus ihren Forderungen hervor. Ein Teil der Forderungen bezieht sich konkret auf die Verbesserung der Lebensbedingungen: mehr Krankenhäuser, mehr Schulen, bessere Löhne, Hilfe für die Landwirtschaft. Sie fordert kommunale Autonomie und Selbstbestimmung der Inígena-Gemeinden. Von Anfang an trat sie auch für nationale Forderungen ein, wie den Rücktritt der Salinas-Regierung, Durchführung fairer Wahlen, Einrichtung einer Übergangsregierung, Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit. Da für die EZLN all das eng zusammenhängt, gibt es für sie keine wirkliche Demokratisierung, solange die PRI die Fäden in der Hand hält.
Die erste Antwort der Regierung auf die Kriegserklärung der EZLN war militärisch. Beim Einsatz der Armee kamen nach offiziellen Zahlen in den ersten Jänner-Tagen 160 Menschen ums Leben, darunter 144 Rebellen und 16 Soldaten oder Polizisten. Erst nach 12 Tagen verkündete Salinas eine Feuereinstellung.
Wenig später begannen Verhandlungen zwischen beiden Seiten über die politischen und sozialen Forderungen der Aufständischen, die sich in der mexikanischen Öffentlichkeit breiter Sympathie erfreuten. Doch die Hoffnungen auf eine schnelle Beilegung des Konfliktes waren trügerisch.
Die Verhandlungen von 1994 gingen im politischen Chaos nach der Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Colosio im März jenes Jahres unter. Eine neue Runde von Friedensgesprächen nach dem Amtsantritt von Salinas\' Nachfolger Ernesto Zedillo scheiterte 1996 an den Meinungsverschiedenheiten über die Frage, was unter der von den Indios geforderten "Autonomie\" zu verstehen sei.
Der Waffenstillstand zwischen Armee und Zapatisten gilt noch immer. Doch bei politisch motivierten Auseinandersetzungen zwischen pro-zapatistischen und regierungstreuen Indios sind in den vergangenen fünf Jahren in Chiapas mindestens 1500 Menschen ums Leben gekommen.
Trotzdem brachte der Aufstand der Zapatisten Mexiko auch positive Änderungen. Er beschleunigte Reformen des von der Alleinherrschaft der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) geprägten politischen Systems. Dazu zählt die Schaffung eines unabhängigen Wahlinstitutes.
In Chiapas selbst hat die Regierung den Landbesitzern 250.000 Hektar Land abgekauft und an indianische Kleinbauern verteilt. Und die Indios in Mexiko sehen sich von den Zapatisten ermutigt, selber für ihre Rechte zu kämpfen.
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