Das Wesen des Adels und der älteren Tyrannis.
Die archaische Zeit darf keinesfalls als eine Zeit uneingeschränkter
Adelsherrschaft gesehen werden. Obwohl das für zwei Drittel der
Epoche zutrifft, ist diese im letzten, wichtigsten Drittel eher
zielstrebig adelsfeindlich, indem andere, bürgerliche Kräfte wirksam
werden und ihren Tribut für die sich verändernden Umstände verlangten.
Die politische Entwicklung zwischen der Großen Wanderung und den
Perserkriegen ist dabei ausschlaggebend, sie beginnt mit dem klassischen
Wehrverband, geht in einen adelsdominierten Geschlechterstaat
über und mündet schließlich in den Bürgerstaat der Polis Mitte
des 7. Jahrhunderts. Dieser vereint drei Punkte in sich:
1.) Die Sammlung des politischen Lebens in einem städtischen Zentrum.
2.) Die Ausbildung spezifischer staatlicher Funktionen und deren
Überantwortung an Beamte.
3.) Die Schaffung einer bürgerlichen Gesellschaft, die kraft gesetzten
Rechtes als solche existiert und Souverän des Staates ist.
Während der Punkt 1 auch für die Zeit der Adelsherrschaft in Frage
kommt, kann man davon ausgehen, daß der Adel an den Punkten 2
und 3 wahrscheinlich mitgewirkt hat, sich die in ihnen zum Ausdruck
kommende Entwicklung aber direkt gegen die Dominanz des Adels
richtet. Dabei ist die Entstehung der Stadt als politischer Mittelpunkt
keine Neuentwicklung der Griechen, vielmehr wurden die bei den
Eroberungen bestehenden städtischen Verhältnisse aufgrund ihrer
Vorteile gegenüber einem ländlichen Siedlungswesen übernommen
oder es kam zur Bildung von Stammstaaten, wie sie in Mittel- oder
Westgriechenland zu finden sind. In beiden Fällen war der gemeinsame
Ausgangspunkt die Bildung einer Wehrgemeinschaft.
Ein Königtum konnte bei den Griechen aufgrund der Macht des Adels
nicht sehr stark werden. Da ihnen das Wesen eines aggressiv expandierenden
Staates in der archaischen Zeit fremd war und durch die Kleinheit
der Verhältnisse ein Feudalsystem ausgeschlossen war, gab es für
einen Herrscher keine Möglichkeit zur Machtetablierung und -mehrung.
Deshalb gab es bis zur Wende des 7. Jahrhunderts u.a. keine Autorität
über dem Adel. Er stand gleichberechtigt neben dem König und teilte
mit diesem sogar den Titel des Basileus, besaß gleichbedeutend
alle wesentlichen Funktionen des Staates, große Teile des Landes
und sogar Städte und Siedlungen. Somit war der Adel im Besitz
der materiellen und intelektuellen Überlegenheit gegenüber den
Gemeinfreien, ein festes staatliches Gefüge konnte nicht entstehen,
und das vorhandene reichte nur soweit wie die jeweilige Adelsgesellschaft.
Die adlige Schicht unterhielt weitläufige Beziehungen ins Ausland
und Kriege waren oftmals nur Fehden zwischen den Adligen verschiedener
Staaten. Staat und Politik jener Zeit waren eine reine Ableitung
der gesellschaftlichen Stellung des Adels, sodaß eine selbständige
Staatlichkeit dem damaligen Leben im großen und ganzen unbekannt
war. Der archaische Staat der uneingeschränkten Adelsherrschaft
befindet sich daher minimal in einer spezifisch staatlichen und
maximal in einer gesellschaftlichen Verfassung. Intensive Adelsverbindungen
und ein ausgeprägtes Demiurgentum ließen örtlich festgelegte Energien
zu Gunsten über den Staat hinausgehender Verbindungen zurücktreten.
Dieses Staatsgefüge endete mit der Entstehung der griechischen
Stadt im rechtlichen Sinne und dem Auftreten der bürgerlichen
Schichten von der Mitte des 7. Jahrhunderts an bis zu den Perserkriegen.
Eine in einmaligen Akten gestiftete Satzung mit geregelter staatlicher
Steuererhebung, Lastenverteilung für den Kriegsdienst, Festsetzung
des materiellen und formellen Rechtes und Schaffung von Beamtenstellen
etc. verdrängte den gewordenen Zustand der standesmäßigen Privilegien.
Träger dieser neuen Verfassung war die staatsbürgerliche Gesellschaft
der Politen. Trotzdem wurde die politische Formensprache und die
soziale Ordnung des Rittertums als Basis beibehalten und viele
Adlige besetzten weiterhin hohe Machtpositionen und beugten sich
nur oberflächlich der neuen Ordnung. Ein Beleg dafür ist, daß
bei der Bildung von Parteien (stasis) im 7. und 6. Jahrhundert
immer auch persönliche Interessen von Vertretern der Adelschicht
mitwirkten und dem steten Wettkampf der Adligen um Ruhm und Ehre
kein Abbruch getan war.
Begreifen wir die archaische Epoche als eine solche der staatlich
ungebundenen und damit erst zur Schaffung der griechischen Einheit
befähigten Kräfte, stellt sich die Frage, ob man nach der Entstehung
der Stadtstaaten, die diesem Wesen in dem Sinne entgegenarbeiteten,
daß sie eine Aufhebung der außerstaatlichen Zusammenhänge und
Beziehungen bewirkten und die realen Stammesverbände auflockerten,
noch von der archaischen Zeit sprechen kann. Im folgenden wird
geschildert, daß dies der Fall ist.
Eine der charakteristischsten Erscheinungen dieser Zeit war die
ältere Tyrannis (Machtergreifung einer Adelssippe und Ausschaltung
der jeweiligen Gegnerschaften) als eine Spielform unter mehreren
Möglichkeiten adliger Politik, die aber keinen ausgeformten Staatstypus
darstellte. In ihrer Zeit wurden in ganz Hellas starke freundschaftliche
Bande geknüpft und die panhellenischen Spiele wurden erst in diesem
Abschnitt wirklich groß und kamen als gesellschaftliches Integrationsmittel
voll zur Geltung. Man darf dabei aber das Gewicht politischer
Themen nicht unterschätzen, im Gegenteil, die internationalen
Beziehungen des Adels waren geradezu durchtränkt mit politischen
Stoffen. Dabei agierte der Adel aufgrund fehlender Solidarität
mit dem Staat häufig sehr eigenständig, vom Staatswesen losgelöst
und unabhängig zur Vaterstadt, was nicht selten zu schweren Mißverständnissen
und Unklarheiten führen konnte, da neben der offiziellen Staatsgewalt
stets selbständige, auch nach außen wirkende Mächte handelten.
Das auch in den spätarchaischen Staaten noch recht lockere Gefüge
des Staates besaß noch nicht die Kraft, sich dagegen zu wehren.
Erst gegen Ende der archaischen Zeit kann man schüchterne Versuche
zur Eindämmung dieser Verhältnisse erkennen. Der Staat achtete
zunehmend auf die Taten seiner Bürger, übernahm dafür die Verantwortung
und trat dementsprechend auch für diese ein.
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