Wie schon in 1.3 angesprochen, entstand die Legenda Aurea in einer Zeit, in der eine neue Entwicklung innerhalb der Hagiographie eingeleitet wurde. Sie gehörte zu den ersten Kompendien, in denen die Legenden durch den Verfasser inhaltlich und stilistisch neu gestaltet wurden und die für ein breites Publikum bestimmt waren. Der unglaubliche Erfolg, der der Legenda Aurea als meist gelesenem Werk neben der Bibel zukam, wird von Sherry L. Reames anschaulich beschrieben: "By the time the first printing presses were established in Europe, the Legenda had already been something of a best-seller for 175 years" .
In der Tat bot die Legenda Aurea dem laikalen Publikum umfassende Kenntnisse auf dem Gebiet der Theologie. In der Absicht, Wissen in einer verständlichen Form zu vermitteln, ist sie eine gelungene Synthese aus den unterschiedlichsten hagiographischen Formen. Aber die Legenda wurde nicht nur für den "Hausgebrauch" verwendet, sondern diente auch oft Priestern als Predigthilfe und war als Quelle für Tischlesungen im Kloster oder für die Ausbildung der Novizen von Bedeutung. Die große Verbreitung des Kompendiums ist daher nicht allein auf das Interesse der theologischen Laien, sondern auch auf das Bildungsprogramm des Dominikanerordens zurückzuführen.
Trotz der Fülle an Quellen, die Jacobus de Voragine für seine Legenda konsultiert hat, besticht das Werk durch einen erstaunlich einheitlichen Stil, in dessen übergeordnetem Zusammenhang "jedes Element auf das Ganze hinorientiert ist" . Besonderen Wert legt Jacobus auf die genaue Datierung der Heiligenlegenden und er ist sehr sorgfältig in der Wahl seiner Quellen, die er alle auf ihre Übereinstimmung hin prüft. Durch die Bearbeitungstechnik der "abbrevatio" , der Zusammenfassung, der Reduzierung der Handlung auf die zum Verständnis notwendigen Elemente und des Verzichts auf Ausschmückungen bleibt Jacobus in seinen Aussagen klar und unmissverständlich.
Im Falle sich widersprechender Textzeugen ist Jacobus bemüht, diese aufzuzeigen und zu einer vereinheitlichenden Lösung zu kommen. Mit der Hilfe von Kommentaren greift er ab und zu in die Erzählungen ein und stellt dem Leser zu einem bestimmten Problem mehrere Zusatzquellen vor, damit dieser sich selbst ein Urteil bilden kann. Der Autor ist so in seinem Werk immer gegenwärtig und Teil des über das ganze Kompendium verteilten Lehrsystems, das dem mittelalterlichen Leser das richtige Verständnis und den Zugang zu den Viten der Heiligen und der Geschichte der Kirche erleichtern will.
Im Aufbau und der Strukur der Legenda verdeutlicht sich die eigene Geschichtskonzeption des Jacobus, mit der er dem Leser "das Einwirken Gottes auf den Verlauf der Geschichte vor Augen führen will" . Sein neuer Ansatz einer Weltzeitalterlehre besteht darin, dass er die Heilszeiten mit dem Ablauf des Kirchenjahres und den Festen der Heiligen in Verbindung bringt. Die Geschichte des Heils offenbart sich in dem Leben der einzelnen Heiligen , die aus ihrer "geschichtlichen Einmaligkeit herausgehoben und ins Immergültige transponiert" werden. Die Heiligenlegenden der Apostel, Märtyrer, Mönche und Bischöfe sind in verschiedenen Gruppierungen um die Kirchenfeste angeordnet, die Stationen im Leben Jesu Christi behandeln. Jesus Christus wird so zur Zentralgestalt der Legenda, auf die sich alle Elemente des Kompendiums beziehen und die verhindert, dass das Werk bei all der Fülle des hagiographischen Materials in eine Vielzahl unzusammenhängender Teile zerfällt.
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