A. Was ist Pflegebedürftigkeit?
"Unter Pflegebedürftigkeit wird das existentielle, auf Dauer Angewiesensein auf die persönliche Hilfe anderer bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens (z.B. An- und Ausziehen, Körperpflege, Benutzung der Toilette, Essen und Trinken) verstanden. Pflegebedürftigkeit umschreibt einen Grad an Hilflosigkeit, der so hoch ist, daß der Betreffende ´nicht ohne Wartung und Pflege sein kann´...". Pflegebedürftigkeit kann also als ein körperlicher Zustand definiert werden, der es mit sich bringt, daß Pflegebedürftige sich nicht mehr überwiegend selbst versorgen können, sondern bei alltäglichen Dingen die persönliche Hilfe Dritter benötigen.
NAEGELE beschreibt eine "Schichtgebundenheit des Pflegerisikos": So ergeben regionale Studien übereinstimmend, daß Angehörigen unterer sozialer Schichten ein höheres Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko besitzen. Pflegehaushalte sind überwiegend durch eine ungünstige Einkommenssituation gekennzeichnet. Die Infratest-Institute befanden: "Sozio¬demographisch läßt sich für Männer zeigen, daß Personen mit geringerem Haushaltsnettoeinkommen, hierbei vor allem Kleinstverdiener, mit zunehmendem Alter gegenüber Besserverdienenden einen erheblich höheren Hilfebedarf aufweisen."
Allerdings läßt sich aus der Tatsache, daß das Pflegefallrisiko mit steigendem Einkommen und höherer beruflicher Qualifikation abnimmt, kein eindeutiger Zusammenhang zwischen Arbeit und Pflegerisiko konstruieren.
B. Das Pflegefallrisiko
Da der Anteil der Pflegefälle an der Gesamtbevölkerung relativ gering ist (etwa 2% ), könnte man das Pflegerisiko als Ausnahme, als individuelles Risiko einiger weniger ansehen. Dann sollte jeder individuell (oder Angehörige von "Risikogruppen", sofern sich Risikogruppen identifizieren lassen) Vorsorge treffen.
Dem ist entgegenzuhalten, daß "...jeder Mensch [...] einen potentiellen Pflegefall..." darstellt: Unabhängig von Alter, Status oder Geschlecht kann jede Person kann von Geburt an (z.B. Geburtsbehinderte) oder heute auf morgen (z.B. Querschnittsgelähmtheit durch Unfall) zum Pflegefall werden. Auch wenn statistisch die Häufigkeit mit dem Alter steigt (etwa 20% der über 80jährigen sind pflegebedürftig) , wird heute trotzdem von einem allgemeines Lebensrisiko gesprochen.
Dies läßt sich verdeutlichen, wenn man die Zahl der Pflegefälle absolut betrachtet: Rund 450.000 Personen werden in Pflegeheimen und rund 1,2 Millionen Personen werden privat versorgt. Angesichts dieser Zahlen kann "...Pflegebedürftigkeit [...] nicht länger als Ausnahmefall angesehen werden."
C. "Behandlungsbedürftigkeit" oder "Pflegebedürftigkeit"?
Vor Einführung der Pflegeversicherung galt im bundesdeutschen Sozialrecht die Trennung zwischen Behandlungsbedürftigkeit und Pflegebedürftigkeit. Diese Trennung basierte auf dem Konzept der Altersschwäche: Danach ist Pflegebedürftigkeit im Alter eine Folge der "natürlichen Abnutzung des Körpers" und deshalb nichts Unnatürliches, sondern eine fast zwangsläufige Folge eines langen Lebens.
Als Konsequenz wurde in der Vergangenheit Aufwendungen, die aus Pflegebedürftigkeit resultieren, durch das alte Sozialversicherungssystem kaum abgedeckt: Die "... Gesetzliche Krankenversicherung [hat] Leistungen im Grundsatz lediglich bei ´behandelbarer´ Krankheit, aber nicht bei ´unbehandelbarer´ Pflegebedürftigkeit zu erbringen". Pflegefälle waren nicht behandlungsfähig, also fielen ihre Leistungen nicht in den Zuständigkeitsbereich der Krankenkassen.
Im Gegensatz dazu stehen die Ergebnisse der geriatrischen Forschung: "Pflege¬bedürftigkeit ist ... aufs engste mit Krankheit, chronischen Erkrankungen und Multi¬morbidität [...] verbunden." Dies läßt sich auch empirisch untermauern: Alte Menschen mit Schlaganfällen stellen vor dementiell Erkrankten und Krebskranken im fortgeschrittenen Stadium den höchsten Anteil der stationär Pflegebedürftigen.
Das bedeutet: Nach dem alten Konzept der Altersschwäche nimmt das Risiko der Pflegebedürftigkeit zwangsläufig mit steigendem Alter zu; das ist weder etwas Ungewöhnliches, noch etwas grundsätzlich Behandlungsbedürftiges, sondern etwas Pflegebedürftiges. Da die Krankenkasse die Leistungen für Pflegefälle nicht bezahlte, war das allgemeine Lebensrisiko Pflegebedürftigkeit im alten Sozialversicherungssystem nur ungenügend abgedeckt.
Die Empirie und Ergebnisse der geriatrischen Forschung besagen dagegen, daß Pflegebedürftigkeit aus Krankheit resultiert. Die Lebenssituation Pflegebedürftiger kann und muß durch Pflegemaßnahmen verbessert werden. Pflegebedürftigkeit wird also als grundsätzlich rehabilitations- und linderungsfähig betrachtet und es ist nicht zu begründen, warum Pflegeleistungen privat oder von der Sozialhilfe finanziert werden müssen.
D. Risiken einer Pflegeversicherung
1. "Kostenexplosion" und Qualität der Pflege
Aus der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist bekannt, daß soziale Dienste zur Kostenexplosion neigen. Dies liegt daran, daß nach bisherigen Erfahrungen die Zunahme der Arbeitsproduktivität bei Diensten, die direkt an der Pflegeperson verrichtet werden, deutlich flacher verläuft als in der Industrie. Wenn aber die Löhne der Pfleger in ähnlichem Maße steigen wie die Löhne der Industrie (die sich ja am Produktivitätszuwachs in der Industrie orientieren), so verteuern sich die Lohnstückkosten mit jeder Tarifrunde.
"Jede Ausweitung der professionellen Pflege muß entweder mit einer Erhöhung der Sozialabgabenquote und/oder mit einer Verschlechterung der Einkommenssituation des Pflegepersonals bezahlt werden (von möglichen Umschichtungen im Sozialbudget einmal abgesehen)." Sind keine großen Produktivitätszuwächse zu erwarten, führen Arbeitszeitverkürzungen bei Pflegediensten zur einer Verringerung der Qualität der Pflege. Dies und die Tatsache, daß bei gleichbleibenden finanziellen Mitteln der Bedarf an sozialen Diensten steigt, bewirkt eine Verschärfung des drohenden "Pflegenotstandes".
2. Die demographische Entwicklung
Verschiedene diskutierte Modelle (siehe unten) arbeiten nach dem Umlageverfahren. Nach diesem Verfahren kommt die jeweils beitragszahlende Generation für die Kosten der aktuell Pflegebedürftigen auf. Langfristig funktioniert dieses Verfahren nur, wenn sich das Verhältnis Beitragsnehmer zu Beitragszahler nicht negativ entwickelt.
Da die Gesellschaft der Bundesrepublik im Schnitt immer älter wird, wird sich dieses Verhältnis aller Voraussicht nach zu Ungunsten der Beitragszahler entwickeln. Minister Blüm versichert zwar: "Die Älteren werden jünger in ihrer gesundheitlichen Verfassung." Doch der gesellschaftliche Wandel, nach dem Ältere immer häufiger alleine leben, die Heiratsziffern sinken und die Kinder oft berufstätig und weit entfernt sind, erhöht den Bedarf an Pflege zusätzlich. "Die gesellschaftlichen und sozialen Folgen des demographischen Umbruchs werden ... dadurch so gravierend, daß in einer Art Scherenbewegung das Anwachsen von Zahl und Anteil alter und häufig pflegebedürftiger Menschen mit einem Nachlassen des häuslichen Hilfeleistungspotentials einhergeht."
NAEGELE und IGL sprechen gar von einem "doppelten demographischen Effekt". Damit meinen sie, daß nicht nur die Zahl der älteren Menschen zunimmt, sondern zudem selbst in hohem Alter die sogenannte "ferne Lebenserwartung" steigt. Dies bedeutet, daß selbst sehr alten Menschen immer noch älter werden. Steigende Lebenserwartung führt dann dazu, daß die Älteren in ihrer gesundheitlichen Verfassung jünger werden, aber das Auftreten von Pflegebedürftigkeit insgesamt nur nach hinten geschoben wird.
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