Neben den autobiographischen Bezügen, auf die schon in 3.2 eingegangen wurde, fallen in Leutnant Burda noch die zahlreichen literarischen Anspielungen, als auch der zeitgeschichtliche Bezug auf. Diesen beiden weiteren Bedeutungsebenen innerhalb des Textes soll dieser Abschnitt Rechnung tragen.
4.1 Erzählte Literatur
Die Grundmotive der Erzählung, nämlich die Liebe zu einer Adeligen und die Abstammungsproblematik, wurden von Ernst Schulzes märchenhafter Bezauberte[n] Rose beeinflusst. Dort ist es das Motiv des Knappen (der sich allerdings am Schluss als Königssohn entpuppt), der sich mit einer Königstochter ein geheimes Stelldichein gibt.
Durch die ganze Erzählung hindurch zieht sich nun ein Geflecht an literarischen Anspielungen, die durch ihre Position im Text zur Strukturierung der Erzählung beitragen und in verschiedener Form die Grundmotive unterstützen und die Bezauberte Rose umspielen. Wenn Burda zum Beispiel Theater- oder Opernaufführungen besucht, so beschränkt sich sein Interesse nicht nur darauf, bei dieser Gelegenheit der Prinzessin zu begegnen, sondern er bezieht den Inhalt der Stücke auch ausdrücklich auf sein eigenes Schicksal. Daneben begegnen dem Leser auch noch literarische Werke, die dem Erzähler zur Illustration seiner Gedanken dienen, so zum Beispiel der schon erwähnte Don Quixote oder Romeo und Julia.
Schon Don Quixote gibt einen wertvollen Hinweis auf das Verhältnis von Illusion und Realität. Der Bezug zur Bezauberte[n] Rose ist dadurch gegeben, dass beide Werke ritterliche Elemente erhalten und damit auch eine spezifische Beziehung zur Welt des Adels, im Don Quixote aber gerade der Versuch, die Ritterromane ins Leben zu übersetzen, also die gelebte Literatur, zum Problem wird. Auch Burda ist ja unfähig, seine Imagination unter Kontrolle zu bringen, was letztlich die Ursache für sein Scheitern ist.
In symmetrischer Position werden zwei Dramen erwähnt, deren Aufführungen beide von Burda besucht werden: Das Drama Minna von Barnhelm im dritten und die Oper Martha im siebten Kapitel. Beide Stücke bezieht Burda auf sich und beide haben bemerkenswerterweise einen glücklichen Ausgang. Zum einen wird Burda in seiner Hoffnung auf die Erwiderung seiner Liebe bestärkt, da der ehrenhafte Major Tellheim in der Minna von Barnhelm am Schluss selbst eine Adelige zur Frau gewinnt, zum anderen hofft er auf eine Abwertung seiner Abstammungsproblematik, da sich im Falle der Martha adelige Damen zu bürgerlichen Tätigkeiten herablassen. Freilich übersieht Burda, dass Tellheim selbst adelig und das Verhalten der Damen in der Martha nur scherzhaft gemeint ist.
Zwei weitere dramatische Werke werden in symmetrischer Position ins Spiel gebracht, im dritten Kapitel Meyerbeers Oper Der Prophet und im fünften Verdis Oper Ernani. Im Mittelpunkt beider Werke steht das Motiv der Ehre, was ein Charakteristikum Burdas, nämlich seine Empfindlichkeit auf den sogenannten "Ehrenpunkt" (5,23) spiegelt. Auch gehen beide Stücke auf Grund der Ruhmsucht und Verblendung der Protagonisten schlecht aus. Ihre Erwähnung lässt eine Problematisierung des Ehrverständnisses erkennen. Auf dem Hintergrund der Bedeutung des Namens "Burda", was aus dem Polnischen übersetzt, "Krawall" bedeutet und der Geschichte seiner Vorfahren, die aus Böhmen vertrieben wurden (32,17 ff.), kann sie nicht zufällig erscheinen, sondern nur eines bedeuten: "Aufstand und Revolution".
Für Zufall, Irrtum und schließlich Tod stehen erneut Ernani einerseits und Romeo und Julia andererseits. Ernani entpuppt sich im Verlauf der Handlung als Adeliger und auch die Handlung von Romeo und Julia ist durch eine Reihe von Zufällen bestimmt. Beide Werke enden mit dem Liebestod der Protagonisten. Nun ist aber der Tod Leutnant Burdas kein Liebestod im eigentlichen Sinne, eine Tatsache, auf das im Zusammenhang mit den zeitgeschichtlichen Bezügen noch einzugehen sein wird. Vielmehr erscheint Burdas Tod als notwendige Folge seines von Zufall und Irrtum bestimmten Lebens, worauf sowohl Ernani, als auch Romeo und Julia anspielen.
4.2 Zeitgeschichtliche Bezüge
Wie schon erwähnt, ist Leutnant Burdas Tod kein Liebestod im eigentlichen Sinne, eher wird hier der Zusammenstoß zweier völlig unterschiedlicher Welten ausgedrückt, der des "alten Wien" des Adels, der Monarchen und der des neuen Besitz- und Bildungsbürgertums, das mit dem Adel in einem Prozess der Selbsterhöhung in Konkurrenz trat.
Deutlich wird, um diese Konkurrenz zu unterstreichen, der sich in der Gründerzeit vollziehende Wandel im Stadtbild ins Spiel gebracht. Das Bild der Ringstraße wurde sehr deutlich durch die beiden konkurrierenden gesellschaftlichen Gruppen geprägt. Glorifiziert Saar das "alte Wien", den Zustand vor dem Bau der Ringstraße, der in den Jahren 1858 bis 1865 erfolgte (14,15 ff.), so kritisiert er den Bau der Ringstraße, durch den viele Orte und Gebäude, wie etwa das Glacis, das Burgtheater oder der Stephansplatz, zerstört oder umgestaltet wurden.
Infolge der Konkurrenz ist auch eine gewisse Anpassung, ja Nachahmung der adeligen Schichten zu bemerken. Leutnant Schorff, der "Baron", wie er von allen fälschlicherweise auf Grund seines Vermögens genannt wird, ist ein Vertreter genau dieses neuen Besitz- und Bildungsbürgertums. Leutnant Burda hängt vergeblich immer noch dem alten Glanz der Kaiserzeit nach und verachtet den Emporkömmling. Schorff ist "Kind einer neuen, die Werte Burdas in Frage stellenden Zeit" , ein Gegner, der diesen zum Äußersten reizen muss. Burda, durch die Beleidigung Schorffs, zum Handeln gezwungen, handelt nach seinem ritterlichen Ehrenkodex. Der Verlauf des Duells aber arbeitet gegen ihn. Nicht das moralische Recht, sondern das Recht des Stärkeren ist ausschlaggebend.
Die Darstellung des zweiten wichtigen Schauplatzes, Prag, fällt nun wesentlich spärlicher aus als die Wiens. Symbolisch bleibt lediglich, dass die Tötung Burdas sich im Hradschin, der Prager Burg ereignet, also genau in dem Einflussbereich, in den Burda vergeblich aufzusteigen versuchte.
Im Unterschied zu Wien wird aus den Augen des Erzählers die Idylle in Prag nämlich nicht durch einen architektonischen Eingriff zerstört, sondern durch die aufkommenden nationalen Bestrebungen; revolutionäre Tendenzen, die auf der Linie der nationalen Bewegungen des neunzehnten Jahrhunderts liegen. Hier kommt die schon erwähnte Bedeutung des Namens "Burda", also "Krawall" zum Tragen und die Erwähnung der Schlacht am Weißen Berg (32,15), die vor Jahrhunderten kein gutes Ende nahm, lässt auch in der Gegenwart nichts Gutes erahnen.
Auch die Beschreibung einer weiteren böhmischen Landschaft (59,20 ff.), die sich in etwa bei Budweis befindet, stellt einen deutlichen zeitkritischen Bezug dar. Die Beschreibung des Schlosses ermöglicht die Zuordnung zu einer bestimmten Richtung des Historismus, die durch den Adel gerade in Böhmen stark vertreten war, nämlich der Neogotik. Dieser Stil war politisch mit dem freiheitlichen Konservatismus verbunden, mit dem Hang, sich zu isolieren. Das ausgeprägte Standesbewusstsein führte zum Kampf aller gegen alle. Auf diese Tendenzen spielt Saar durch die Erinnerung an Zeiten des Faustrechts an, was schließlich in der Katastrophe, in der die Erzählung endet, dem Duell (88,13 ff.), das ja nichts anderes als ritualisiertes Faustrecht ist, gipfelt.
War zuerst die Rede von einer Konkurrenz, aber auch einer Anpassung des neuen Besitz- und Bildungsbürgertums an den Adel, so existierte auch das umgekehrte Phänomen. Der Adel vollführte eine Annäherung an die Welt des Bürgers, die freilich ihre eigenen Gesetze hat. Sie war auf keinen Fall so drastisch wie in der Oper Martha dargestellt, in der Adelige gleichsam Bürger nachahmen, aber es gab doch - neben einem ausgeprägten Standesbewusstsein - Tendenzen aller sozialen Schichten, sich miteinander zu vermischen. Für sie ist aber weniger eine allgemeine Harmonisierung verantwortlich, sondern eher der ständig gegenwärtige Kampf um Rang und Ansehen.
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