Gegen Ostern 1770 verließ Goethe Frankfurt zum zweitenmal, um in Straßburg sein abgebrochenes Studium zu beenden. Straßburg bedeutete in vieler Hinsicht einen völligen Neubeginn. Nicht nur dass er hier ernsthaft studierte (allerdings nicht die wenig geliebte Juristerei, sondern vorwiegend Medizin und Staatswissenschaft), nicht nur dass ihm der Anblick des Straßburger Münsters die Augen öffnete für die zu seiner Zeit noch verpönte gotische Architektur in Straßburg lernte er auch Menschen kennen, die für seine weitere Entwicklung von wegweisender Bedeutung waren.
Am folgenreichsten war seine Begegnung mit dem Literaten und Geistlichen Johann Gottfried Herder. Er machte Goethe mit der antirationalistischen Gedankenwelt des Philosophen Johann Georg Hamann bekannt, wusste ihn für Shakespeare und Ossian zu begeistern und lenkte seine Aufmerksamkeit auf den ästhetischen Reiz der Volkspoesie. Hier in Straßburg kam er auch mit dem Arzt und Schriftsteller Johann Heinrich Jung-Stilling und dem Dramatiker Jakob Michael Reinhold Lenz zusammen. In diesem Kreis bildeten sich die entscheidenden Ideen der Sturm-und-Drang-Bewegung heraus.
Nicht minder wichtig als dieser intellektuelle Austausch war in Goethes Straßburger Zeit die Liebe zu Friederike Brion, der Tochter eines Landgeistlichen in Sesenheim. Der idyllische, naturnahe Lebensraum des Pfarrhauses trug wohl mit dazu bei, dass ein Strom lyrischer Produktion einsetzte, der sich von der literarischen Konvention zugunsten einer Sprache der echten Empfindung löste. Willkommen und Abschied, Mailied und Heidenröslein sind die bekanntesten Gedichte aus dieser Zeit.
Doch vermochte ihn die ländliche Idylle auf Dauer nicht zu fesseln; immer stärker wurde der Wunsch nach neuen Erfahrungen und verantwortlicher Tätigkeit. Am 4. August 1771 schloss Goethe sein Studium mit dem Grad eines Lizentiaten der Rechte ab und kehrte nach Frankfurt zurück. Die Beziehung zu Friederike Brion löste er brieflich.
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