Das Erscheinen des Briefromanes Die Leiden des jungen Werthers im Herbst 1774 war eine Sensation. Das Buch zog nicht nur ein grosses Leserpublikum in Deutschland und im Ausland an. Es zeigt sich auch, dass sich die Antelinahme am Schicksal des Helden bis zum \"Wertherfieber\" steigerte, was sogar zu Selbstmorden führte.
Doch der eigentliche Werther-Kult blieb eine Sache der gebildeten Stände. Werthers Kleidung, sein Auftreten kamen in Mode. Seine exzentrische Sprachweise wurde zur Umgangssprache der Liebenden und versicherte die Ausserordentlichkeit ihrer Beziehung.
Vor dem Werther boten die Romane den Lesern einen Stoff an, welcher leicht nachvollziehbar war. Der Leser suchte in einem Roman immer einen Nutzen, d.h. der Roman musste den zeitgenössischen Wervorstellungen entsprechen.
Diese Auffassung änderte sich grundlegend nach der Veröffentlichung des Briefromans. So kam es, dass es in erster Linie der Stoff war, besonders der Selbstmord als anstössiges Ereignis, der die Wirkung des Buches ausmachte.
Der Roman durchbrach einige Tabus:
dass sich Werther nicht auf die Wertvorstellungen der Zeit beruft, sondern auf den Menschen, auf das Herz;
dass die Liebe und die Leidenschaft einen Menschen in den Tod stürzen können;
dass Selbstmord kein Verbrechen ist;
dies alles entsprach einer neuartigen Auffassung von Moral.
Goethes Werther wurde dadurch zum ersten Roman, der das veränderte Denken und Empfinden, das sich über Jahrzehnte hin entwickelt hatte, leuchtend darstellte.
Ein Vergleich mit einer neueren Fassung des Stoffes, namentlich den Neuen Leiden des jungen W. (1972) von Ulrich Plenzdorf, zeigt, dass eine Abstraktion von den gesellschaftlichen Bedingtheiten möglich ist. In beiden Romanen wird der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft dargestellt. Konflikt und Lösung sind auf die jeweilige gesellschaftliche Wirklichkeit zu beziehen.
Durch die Verwendung von Goehte-Zitaten wird Werthers Problematik auf die Moderne übertragen. Sie sind so gewählt, dass sie auf die jeweilige Situation Edgars passen.
Es sollte klar werden, dass jede Zeit ihre speziellen Probleme hervorbringt, die sich auf den einzelnen auswirken, und dass es in jeder Zeit zu verschiedener Ausprägung von individuellen Konflikten kommt.
Indem Plenzdorf Parallelen aufweist, hebt er den historischen Zusammenhang auf. Hierdurch macht er Goethe verständlich und setzt das historische Thema in die Gegenwart um. Er löst den Klassiker aus dem Betrachtungsrahmen des kulturellen Erbes, das nur für sich und die jeweilige Zeit spricht.
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