Nun zur andern Person, die ich genauer ergründen möchte, Jorge von Burgos. Das Interessante daran: Es gab in unserem Jahrhundert einen argentinischen Schriftsteller namens Jorge Luis Borges.
4.1. Leben und Werk Jorge Luis Borges\'
Das Allerwichtigste, um herauszufinden, welche Beziehung Jorge Luis Borges zum Namen der Rose hat, ist wohl, zu wissen, wer er überhaupt war und was er schrieb. Jorge Luis Borges wurde kurz vor dem Beginn unseres Jahrhunderts in Buenos Aires, Argentinien, geboren. Sein Vater war Rechtsanwalt und Philosophielehrer englischer Abstammung, die Mutter kam aus einer alteingesessenen argentinischen Familie, so dass Borges zweisprachig aufwuchs. Einen grossen Teil seiner Kindheit verbrachte er in der Bibliothek seines Vaters und so kam es, dass Borges schon im Alter von neun Jahren sein erstes Werk, eine Übersetzung von Oscar Wildes The Happy Prince ins Spanische, veröffentlichte. Im Jahr 1914 wanderte seine Familie nach Europa aus, damit Jorge und seine Schwester in Genf ein Gymnasium besuchen konnten. Nach der Matura zog der Dichter nach Spanien und wurde dort Mitbegründer des Ultraismus, einer dem Surrealismus ähnlichen Stilform, was er später als Dummheit betrachtete. Nach sieben Jahren in Europa kehrte Borges 1921 zurück nach Buenos Aires, wo er während mehr als einem Jahrzehnt verschiedene Gedichtbände und Zeitschriften herausgab. Ende der dreissiger Jahre nahm er seine erste Festanstellung, als Beamter in einer städtischen Bibliothek, an. Wie schon sein Vater und sein Urgrossvater, erblindete Borges allmählich, bis sein Augenlicht schliesslich ganz schwand. Als in Argentinien Juan Perón an die Macht kam, verlor Borges seine Stelle und sämtliche Einkünfte. Nach dem Sturz des faschistischen Diktators durch das Militär wurde der überzeugte Antiperonist zum Direktor der argentinischen Nationalbibliothek gewählt. Wenig später wurde er auch Professor für Englisch und widmete sich dem Studium des Altenglischen, Altnorwegischen und Altisländischen. Der \"literarisch universal gebildete Kenner der westeuropäischen Kultur\" erhielt je länger je mehr Anerkennung, bekam unzählige Preise und Ehrungen, wurde Gastprofessor an Universitäten in der gesamten Welt, seine Bücher wurden in diverse Sprachen übersetzt. Borges starb am im Juni 1986 mit 86 Jahren in Genf.
Was schrieb Jorge Luis Borges? Am Anfang seines Schaffens verfasste er nur Gedichte. Nach einer schweren Krankheit begann er 1938, vor allem erzählerische Kurzgeschichten zu verfassen. In der Folge seiner endgültigen Erblindung in den frühen sechziger Jahren wandte er sich wieder der Lyrik zu. Nachdem er in seiner Jugend noch anarchistische und pazifistische Gedichte schrieb, drehten sich seine späteren Werke hauptsächlich um Zeit und Ewigkeit, um Leben und Tod, aber auch um Literatur und Themen der gesamten Weltgeschichte, vorzugsweise aber aus nordischen Epen und den Befreiungskriegen Südamerikas, an welchen viele seiner Vorfahren beteiligt waren.
Im Gegensatz zum Beginn von Borges\' Biographie ist sein späteres Leben gezeichnet von einem ausgeprägten Konservatismus nicht nur literarischer Art (er benützte nur noch klassische Versmasse), sondern auch politischer. \"Ich glaube nicht an die Demokratie, diesen merkwürdigen Missbrauch der Statistik\" sagte er und als er 1976 den höchsten chilenischen Militärorden im Namen des Präsidenten der Militärjunta, General und Generalissimus Augusto Pinochet, entgegennahm, erklärte er, die beiden Länder (Chile und Argentinien) könnten nur durch das Schwert aus dem Sumpf, in dem sie versunken seien, hervortauchen. Borges bezeichnete einen Schriftsteller namens Leopoldo Lugones als seinen geistigen Ahnen, der in seinem Buch Das starke Vaterland bemerkte: \"Zum Glück ... haben die Militärregierungen die Demokratie, den Pazifismus und den Kollektivismus wieder einmal zersprengt, denn die Militärs ... befehligen wieder, dank dem angeborenen Recht der Besten\" und \"An dem Tag ist Argentinien eine grosse Nation, an dem es das allgemeine Wahlrecht abschafft.\"
Jorge Luis Borges war ohne Zweifel eine zwiespältige und umstrittene Person. Er hatte aber nicht nur einen grossen Einfluss auf die Literatur Südamerikas, sondern auch der gesamten restlichen Welt. Er war wohl die perfekte Figur, um karikiert zu werden.
4.2. Vergleiche
Es gibt mehrere Dinge, die in Ecos Buch auf Jorge Luis Borges hinweisen: Der Argentinier hat einige Erzählungen geschrieben, die eine grosse Ähnlichkeit, nicht nur erzähltechnischer sondern auch thematischer Art, mit dem Namen der Rose aufweisen. Eine Geschichte handelt zum Beispiel von zwei rivalisierenden Inquisitoren, eine andere von der Unmöglichkeit, eine Rose in Worte zu fassen. Auch hat Borges mehrere Detektivromane geschrieben, einige seiner Geschichten spielen sogar in Bibliotheken. Andere Parallelen zum Buch von Umberto Eco sind die Einschachtelungen mancher Erzählungen in kurze Rahmenhandlungen und die vielen Zitate und Verbindungen zur gesamten Weltliteratur. \"Alle Bücher sprechen von anderen\": das sagte William von Baskerville, das schrieb Umberto Eco und das praktizierte auch Jorge Luis Borges, sogar ziemlich extensiv.
Die offensichtlichsten Andeutungen auf den Letztgenannten finden sich aber natürlich in der Person von Jorge von Burgos. Beide gehören einer kleinen intellektuellen Elite an und beide sind in relativ hohem Alter erblindet, besitzen jedoch ein enzyklopädisches Wissen über die Literatur ihrer Zeit. Auch Jorge im Namen der Rose ist, wie sein Namengeber heutiger Zeit, nicht nur ein Feind der Demokratie, sondern auch des Fortschritts, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. Für den mittelalterlichen Jorge ist die Geschichte nur ein langsamer Abstieg in Richtung Letztes Gericht, für den Jorge dieses Jahrhunderts hingegen ist sie ein ewiges Auf und Ab, das Verbesserung nur zulässt, damit sie später wieder zugrunde gehen kann. Jorge von Burgos ist allerdings nicht einfach ein Kopie seines Vorbilds. Jorge Luis Borges schrieb beispielsweise auch humorvolle und ironische Geschichten und war kein Anhänger irgendwelcher religiöser Fanatismen.
Welche Gründe gibt es nun, dass dieser Jorge Luis Borges auf so hässliche Art und Weise im Namen der Rose verewigt wird? Der einzigen Hinweis, den ich habe, ist ein Nebensatz in Ecos Nachschrift zum \'Namen der Rose\'. Darin sagt er, dass vor allem spanische Schreiber mit ihren Kommentaren zur Apokalypse einen grossen Einfluss auf das Denken des Mittelalters gehabt hätten, und ein blinder Bibliothekar sei einfach ein gutes erzählerisches Element, und eine Bibliothek plus Blinder müsse zwangsläufig Borges ergeben, \"auch weil die Schulden bezahlt werden müssen\" . Eine vieldeutige Aussage: Möglicherweise hatte Umberto Eco mit Borges noch irgendeine Rechnung offen, denn der Argentinier war auch ein einflussreicher Kritiker. Vielleicht ist Jorge von Burgos auch als Wertung für Borges\' politische Äusserungen so böse beschrieben (was ich durchaus begreifen würde). Wahrscheinlich ist es aber gar nicht so wichtig, Ecos Motive wirklich herauszufinden, viel bedeutender ist der Versuch, es herauszufinden.
Nachwort
Einige Schlüsse
Und was haben wir jetzt aus all diesem gelernt? Zum Beispiel, dass dieses Buch (wie jeder Roman, hier einfach deutlicher) aus zwei Zutaten besteht: Dem realen Hintergrund (der Armutsstreit, die Ketzerverfolgung, viele der Personen) und der fiktiven Geschichte, die durch die Fantasie und die Ziele des Autors bestimmt werden (die Handlung, die Abtei, die Anspielungen). Oder wie verknüpft die Geschehnisse des Buches nicht nur mit der Geschichte jener Zeit, sondern auch mit der kompletten Weltliteratur sind. Denn wohlgemerkt, alles was ich oben geschrieben habe, sind nur kleine Bruchstücke. Man müsste wahrscheinlich über jeden einzelnen Namen ein eigenes Buch schreiben.
Einige Bemerkungen
Alle Interpretationen und Schlüsse, die ich in dieser Arbeit tätigte, sind textimmanent entstanden, einzige Ausnahmen sind die Biographien von Jorge Luis Borges und Bernard Gui. Nicht dass ich ein überzeugter Anhänger von textimmanenter Interpretation wäre, aber es blieb mir wenig anderes übrig. Denn obwohl Kindlers Literaturlexikon von reichhaltiger Sekundärliteratur, namentlich auch populärwissenschaftlicher Art spricht, habe ich, abgesehen von einigen Verweisen auf Artikel in speziellen Literaturzeitschriften , keine brauchbaren, deutschsprachigen Interpretationstexte entdeckt. Aus diesem Grunde habe ich mich dazu entschlossen, für diese Arbeit ausschliesslich andere Quellen zu benützen, die auf den ersten Blick vielleicht nicht besonders eng mit dem Namen der Rose zusammenhängen. Die einzige Abweichung hierzu bildet die Nachschrift zum Namen der Rose von Umberto Eco, die allerdings dem Leser keine Deutungshilfen bieten, ihn eher noch verwirren soll.
Ein anderes Problem war die Frage, in welcher Form ich diese Arbeit schreiben sollte. Anfangs hatte ich die halsbrecherische Idee, die ganze Arbeit in eine Geschichte zu verpacken, was ich später aufgegeben habe, weil es mir zu künstlich schien. Dann hatte ich den Einfall, meine Erkenntnisse als Gespräch mit dem Leser zu tarnen. Auch davon sind nur noch einige wenige Überreste geblieben. Schliesslich habe ich mich darauf geeinigt, eine ganz normale Form zu wählen, allerdings konnte ich es nicht bleiben lassen, ein paar Anspielungen im Sinne Ecos und einen Hauch zarter Ironie in diese Blätter einzufügen.
Und damit beende ich in der Hoffnung, Dir, lieber Leser, nicht nur viel mehr oder weniger schlaues Zeugs erzählt zu haben, sondern Dir auch ein etwas Hilfe für die nächste Lektüre von Umberto Ecos Meisterwerk geleistet zu haben und Dich vielleicht sogar ein bisschen unterhalten zu haben, meine Arbeit. Und denk daran: Stat rosa pristina nomine, nomina nuda tenemus.
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