Im zu untersuchenden zweiten Epeisodion kommt es zum dramatischen Höhepunkt des Werkes So¬phokles´: Antigone wird vom Wächter bei der erneuten Bestattung ihres Bruders gefaßt und Kreon vorgeführt. Nach einem heftigen Streitgespräch zwischen den beiden verhängt Kreon die Todesstrafe über seine Nichte.
Die gesamte Szene läßt sich in drei Phasen bzw. Abschnitte unterteilen: das Gespräch zwi¬schen dem Wächter und Kreon, der Dialog von Antigone und Kreon sowie die Wechselrede der beiden Schwestern Antigone und Ismene:
Im ersten Abschnitt der Szene (Zeile 381 - 439) bringt der Wächter Antigone zu Kreon und berichtet ihm eifrig was Antigone tat. Kreon scheint dies nicht glauben zu wollen und ist skeptisch, erst als ihm Antigone auf seine Frage hin die Tat gesteht, muß er es akzeptieren. Dennoch scheint der Herrscher Antigone unter vier Augen befragen zu wollen, denn bevor er Antigone fragt, ob sie von dem Verbot wußte, schickt er den Wächter weg (Z.:443). Dies deutet daraufhin, daß sich Kreon von Anfang an der Tragweite seiner zu fällenden Entscheidung bewußt ist und noch etwas mit sich zögert, wohlwissend seine angedrohte Strafe anwenden zu müssen, dies aber eigentlich nicht will.
Im sich nun anbahnenden Streitgespräch zwischen Antigone und ihrem Onkel begründet An¬tigone die Übergehung des Verbots der Bestattung mit der höheren Wertigkeit der Götterge¬setze (die Tradition alle Toten zu bestatten) gegenüber den weltlichen Gesetzen Kreons (Z.:452 - 454). Da¬bei sieht sie die sie zu erwartende Strafe für sich als Gewinn an, ist ihre Familie doch mit dem Fluch des Labdakos, also dem vorzeitigen Tod aller Mitglieder, belegt. Und nur noch Antigone und ihre Schwester leben, gibt es für Antigone nicht mehr viele Gründe in der Welt der Lebenden zu bleiben.
Antigone legt ihre Interpretation der Lage (höhere Wertigkeit des göttlichen Gesetzes vor dem weltlichem) sehr kühl, selbstsicher und gelassen dar. Kreon schien eine derartige Selbstsicherheit nicht erwartet zu haben und gerät darüber in Zorn: ihm fehlen Argumente um etwas zu erwidern und er beginnt Antigone zu beleidigen (Z.:479 - 482). In seinem Zorn klagt der Herrscher von Theben auch Antigones Schwester Ismene an; nun hat er die Beherrschung und alle Zurückhaltung verloren.
Als Antigone ihm eröffnet, daß sie als einzige den Bruder bestattete, weil das Volkes, obwohl es die gleiche Einstellung wie Antigone besitzt, Strafe fürchtet und deswegen still hält (Z.:503 - 504), bringt Kreon seine Einstellung zum Staat ins Spiel: der Bruder, der jetzt ohne Grab liegen müsse, handelte zum Unwohl des Staates (Z.:617) und habe deshalb kein anständiges Grab verdient, er setzt also auch bei den Toten den Maßstab an den Taten für den Staat an. Seine Nichte erwidert darauf hin, sie wolle lieben und nicht hassen (Z.:523). Mit dieser Aussage stellt sie die Traditionen (die Liebe und Loyalität zu Familienmitgliedern) vor das Gesetz, womit Antigone ein weiteres Statement von sich gab , welches im Widerspruch zu den Idealen ihres Onkels steht und er¬neut scheint jener deswegen die Fassung zu verlieren und beleidigt sie wiederum.
Im folgenden Dialog der Schwestern Ismene und Antigone verbietet Antigone ihrer Schwester irgendwelche Schuld auf sich zu laden und versucht sie durch Hohn von sich wegzutreiben, man möchte fast meinen den kommenden Trennungsschmerz schon im Vorfeld zu lindern (Z.:548 - 549).
Die oben beschriebene Szene bildet wie bereits gesagt die Klimax des Werkes \"Antigone\", denn an dieser Stelle ist die Zuspitzung des Konflikts am intensivsten, für den Rezipienten kann erkennen, daß die Handlung keinen guten Verlauf nehmen wird: sowohl Antigone als auch Kreon sind in ihrer Einstellung stur und keinesfalls bereit auf den anderen zu zu gehen: ein für Antigone negatives Ende scheint unausweichlich, da Kreon als Herrscher die uneinge¬schränkte Macht besitzt sowie von der gesetzlichen Seite im Recht ist. Außerdem ist während des Dialogs der beiden erkennbar, daß Kreon seine Bedenken gegenüber der Todesstrafe für einen Verwandten ablegt und auch dieses Mal das Wohl des Staates vor alles andere stellt. Dementsprechend ist diese Szene die Schlüsselszene für die weitere tragische Entwicklung des Werkes, das in einer totalen Katastrophe endet.
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