Wolfgang Borchert, der von 1912 bis 1947 lebte, gehört zu der durch den Zweiten Weltkrieg um die Jugend betrogenen Generation. Er war selbst vom Krieg betroffen, da er als Soldat an der Front schwer verwundet worden war. In seinem Werk \"Das Brot\" verarbeitet er vorwiegend die Erlebnisse dieses Krieges.
Borchert beschreibt in seiner Kurzgeschichte \"Das Brot\", wie eine Frau ihren Mann nachts in der Küche überrascht und erkennt, dass ihr Mann heimlich Brot isst. Brot, das rare Grundnahrungsmittel in Kriegszeiten, was es einzuteilen gilt. Ihr Mann behauptet jedoch, dass er etwas gehört hat und nachsehen wollte. Die Frau sieht ihren Mann nicht an, weil sie nicht ertragen kann, dass er sie nach 39 Jahren Ehe anlügt. Beide finden in diesem peinlichen und schrecklichen Moment, dass der andere älter aussieht als sonst. Gemeinsam gehen sie wieder zu Bett, wo die Frau nach einiger Zeit das vorsichtige Kauen ihres Mannes hört. Am nächsten Tag schiebt sie ihm eine von ihren Brotscheiben zu, behauptet, sie könnte abends das Brot nicht vertragen. Er beugt sich tief über seinen Teller, fängt an zu essen und schämt sich. In diesem Augenblick tut er ihr leid.
Bei diesem Text handelt es sich um eine Kurzgeschichte. Der geringe Umfang, die begrenzte Personenzahl, der unvermittelte Beginn ohne einführende Einleitung, der offene Schluss, der den Leser seine Schlussfolgerungen selber ziehen lässt, deuten darauf hin. Auch die Thematik ist typisch für eine Kurzgeschichte. Der Text behandelt nur einen kurzen Ausschnitt aus dem Leben eines Ehepaares, nämlich die teilweise unzureichenden Nahrungsrationen im Krieg. Hinzu kommt die knappe und realitätsnahe Alltagssprache, die kennzeichnend für diese Textsorte ist.
Wendet man sich dem äußerem Aufbau zu, so fällt auf, dass diese Kurzgeschichte in vier Absätze gegliedert werden kann. Zudem ist der Dialog zwischen dem Mann und der Frau stark strukturiert, also in viele kleine Absätze gegliedert ist, wodurch er zusätzlich hervorgehoben wird.
Was den inneren Aufbau anbelangt, so könnte man die einzelnen Sinnabschnitte folgendermaßen zusammenfassen: Im ersten Abschnitt wacht die Frau auf und geht ihrem Mann nach in die Küche (Z 1-14). Der zweite Teil wird von der Küchensituation gebildet, in der es zu der peinlichen Gegenüberstellung der Eheleute kommt (Z 15-69). Der dritte Sinnesabschnitt stellt die Szene im Schlafzimmer dar, wo die Frau endgültig erkennt, dass ihr Mann sie belogen hat und heimlich Brot isst (Z 70-93). Den Schluss bildet dann das Ereignis am nächsten Tag, als die Frau ihren Mann eine Scheibe ihres Brotes abgibt (Z 94-110). Zusammenfassend kann man sagen, dass der Autor eher auf einen positiven Schluss zusteuert. Durch den peinlichen Moment in der Küche mit dem Schamgefühl und der Notlüge des Mannes kommt es zu einer Wende im Verhalten des Frau. Zunächst reagiert sie verletzt und kann es nicht ertragen, dass er sie nach einer so langen Ehe anlügt (vgl. Z 44-47) bis sie dann am darauffolgendem Tag großzügig reagiert und ihrem Mann eine ihrer Brotscheiben mit der Behauptung, dass sie \"dieses Brot nicht so recht vertragen\" (Z 99f.) kann, abgibt. Dieser Moment leitet die Wende zum Positiven ein, auch wenn der Mann, seinerseits erneut peinlich berührt (vgl. Z 103f.), die vier Scheiben Brot isst, weiß er doch, dass seine Frau ihn achtet und über seine Fehler hinweg sieht.
Bei der Betrachtung des Satzbaus fällt auf, dass der Text viele Ellipsen, \"Nachts. Um halb drei. In der Küche\" (Z 11), und Wiederholungen, \"Es war halb drei\"(Z 1), \"Die Uhr war halb drei.\"(Z 11), \"Um halb drei.\"(Z 14), aufweist. Die Sprache ist also eher einfach und schlicht mit kurzen und knappen Sätzen gehalten. Zudem sind die Satzmuster paratax. Diese beiden Aspekte unterstreichen die einfache und kärgliche Lebenssituation. Ein großer Teil der Geschichte besteht aus umgangssprachlichem Dialog, in dem sich die Hauptpersonen häufig wiederholen. Der Mann sagt: \"Ich dachte, hier wäre was.\"(Z 25), dann nochmal, \"Ich dachte, hier wäre was\" (Z 44), oder, \"ich hörte hier was. Da dachte ich, hier wäre was.\" (Z 46f.). Die Frau echot: \"Ich hab auch was gehört\" (Z 27), und nochmal, \"Ich hab auch was gehört\"(Z 48). Diese Wiederholungen verstärken beim Leser den peinlichen Eindruck der Situation. Dass in der Geschichte weder die Namen der beiden Hauptpersonen genannt werden, noch ihr Aussehen beschrieben wird, verstärkt den Eindruck der Kahlheit. Die Erzählperspektive ist auktorial. Man merkt das daran, dass der Erzähler zwischen den Gedanken der beiden Hauptpersonen hin- und herspringt. Die Ausgangssituation wird aus der Sicht der Frau beschrieben, \"Sie überlegte, warum sie aufgewacht war.\" (Z 1f.). In der Küche erlebt man das Geschehen aber plötzlich auch aus dem Blickwinkel des Mannes, \"Sie sieht doch schon alt aus, dachte er...\"(Z 31f.). Dennoch kommt die Sicht des Mannes nur ein mal vor (vgl. Z 29-36), wodurch die Sympathie des Lesers zum Charakter der Frau geleitet wird.
\"Plötzlich wachte sie auf.\" (Z 1). Mit diesem parataktischen Satz, der den Leser völlig unmittelbar und ohne Einleitung mit dem Geschehen konfrontiert, wird die krisenhafte Situation der beiden Eheleute aufgezeigt. Diese Tatsache unterstreicht damit einerseits, dass es sich um ein besonderes Ereignis handelt und eine Entscheidung zum Handeln erfordert. Anderseits wird mit dieser Darstellungsweise auch eine gewisse Spannung und ein Interesse am Weiterlesen geschaffen.
Das Aufwachen der Frau erscheint hierbei gleichzeitig im übertragenen Sinne. Sie wird nicht nur durch die Geräusche in der Küche wach, sondern muss auch unerwartet erfahren, dass sie von ihrem Mann hintergangen wird, als er heimlich etwas von dem gering vorhandenem Brot nimmt. Sie erkennt anhand der \"Krümel auf dem Tuch\" (Z 21), dass sich der Mann eineScheibe von dem Brot abgeschnitten haben muss, wie sie es auch später durch sein leises und vorsichtiges Kauen (vgl. Z 86-93) mit schließlicher Gewissheit weiß. Die Frau ist sich demnach bewusst, dass sie von ihrem Ehemann hintergangen und belogen wird. Zunächst ist es für die Frau ein Bewusstsein, welches sie völlig unvorbereitet wahrnimmt und das in ihr ein Gefühl der Verletztheit erzeugt: \"Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht ertragen konnte, dass er log.\" (Z 40f.). Dennoch beabsichtigt sie in dieser Situation nicht, ihren Mann bloßzustellen, sondern sieht aus Liebe zu ihrem Mann ,,von dem Teller weg\" (Z 23f.), um ihm nicht zu verletzen und ihm ein Gefühl der Achtung zu geben. Das wird besonders deutlich, als sie das Licht, was sie anfangs anmachte, nun löscht, um nicht den Teller sehen zu müssen. Jedoch weiß der Mann auch ohne die Bloßstellung seiner Frau um die Scham seines Verhaltens ihr gegenüber: \"... sah wieder so sinnlos von einer Ecke in die andere, ... \" (Z 45f.).
Insofern wird also das Verhältnis der beiden zueinander dargestellt.Mit dem Ausschalten des Lichts erfasst sie die peinlich berührende Lage und sieht schweigend und rücksichtsvoll über das Verhalten ihres Mannes hinweg, ihm also keine Vorhaltungen macht. Indem sie die Charakterschwäche ihres Mannes einerseits erkennt, aber zugleich als solche akzeptiert, beweist sie menschliche Größe. Sie nutzt die Situation nicht aus, um ihrem Mann sein Fehlverhalten vorzuhalten, ihn bloßzustellen und ihm sein Selbstwertgefühl zu nehmen, sondern gibt ihm, indem sie das Licht jetzt ausmacht (vgl. Z 61ff.), seine Lüge scheinbar nicht realisiert und sich schlafend stellt, ,, ... damit er nicht merken sollte, dass sie noch wach war.\" (Z 90f.), ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit, dass es ihm erlaubt sich trotz allem noch von ihr geachtet zu fühlen. Als ihr Mann dann ,,am nächsten Abend nach Hause\" (Z 94) kommt, verhält sie sich weiterhin in einer liebevollen Weise ihrem Mann gegenüber, indem sie ihm eine weitere Scheibe Brot hinlegt. Das macht sie, um ihm zu helfen und ihm zu signalisieren, dass sie immer noch zu ihm steht, weil sie ihn liebt. Mit einer Notlüge erklärt sie, dass sie besonders abends das Brot nicht besonders gut verträgt und er es statt ihrer essen soll (vgl. Z 99-108). Nun durchschaut aber auch der Mann die offensichtliche Ausrede der Frau, denn nur so lässt sich seine Reaktion erklären: \" ... wie er sich tief über den Teller beugte. Er sah nicht auf.\" (Z 102f.). Beide sind also in unterschiedlicher Art von der Situation betroffen, beschämt und wollen den anderen nicht verletzen. Sie wissen, dass sie ihn trotz der Fehler und Schwächen achten. Angesichts dieser Situation empfindet die Ehefrau keine Befriedigung, sondern hat nur Mitleid mit ihm: ,,In diesem Augenblick tat er ihr leid.\"(Z 104).
Ich würde diese Kurzgeschichte als einen Erkenntnisprozess deuten. Die Frau hat festgestellt, dass die ihren Mann trotz des offensichtlichen Vertrauensbruch achtet und liebt. Da die Hauptfiguren nicht weiter als lediglich \"Mann\" und \"Frau\" charakterisiert werden, erscheint das Geschehen übertragbar und erhält eine gewissen Allgemeingültigkeit. Daher sehe ich diese Kurzgeschichte als eine Möglichkeit der Identifizierung oder Wiedererkennung der aufgeführten Verhaltensweisen auf die Gesellschaft an.
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